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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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begünstigen. Er mußte eine Verabredung treffen. Ob sich am besten das Kino empfahl? Die Bowlingbahn? Oder das Spielkasino?
    Morning Valcourt zog am Periskopgriff, richtete das Sichtgerät auf den Kontinent, auf dem noch kürzlich die Vereinigten Staaten von Amerika gelegen hatten. Brände. Zurück auf Rußland. Brände. Wieder auf Amerika. Städte brannten. Ölquellen loderten. Kohleflöze glosten. Weideland lohte. Torfmoor schwelte. Waldbrände. Eine Dunstwolke, so schwarz wie das Blut Nadine Covingtons und Leutnant Foxys, durchwehte die Luft. Ruß verhüllte die nördliche Erdhalbkugel.
    In der Nacht darauf – einer Montagnacht – träumte George, er sei aus Qualm. Auf seinen Rauchbeinen konnte er sich nicht fortbewegen. In den Rauchhänden konnte er nichts halten.
    Der Dienstag brach an. Wieder fand die Therapiesitzung im Periskopraum statt.
    »Würden Sie mir bitte sagen, welcher Tag heute ist, George?« fragte Morning.
    Bildete er es sich nur ein, oder stellte sie zunehmend sinnlose Fragen? »Der zehnte Januar. Ich bin seit drei Wochen an Bord.«
    »Gut. Aber draußen ist’s jetzt Anfang Juli.«
    »Wo?«
    »In der Welt.«
    »Was?«
    »Die Zeit ist durcheinandergeraten, George, eine der vielen Folgen des Atomkriegs, die niemand so recht im voraus gewußt hat. Solche Massen fundamental notwendiger Partikel sind annihiliert worden, daß die Zeit quasi Knicke und Falten bekommt. Hier verstreicht eine Minute, aber draußen ist es eine Stunde, ein Tag oder eine Woche.«
    »Falten?«
    »Wie ein chinesischer Fächer. Das ist postatomare Physik, ein nicht einmal von Einstein vorhergeahntes Phänomen. An lokalen Abschnitten der quantendynamischen Struktur übernimmt Raum die Funktion der Zeit, und umgekehrt. Nach allen Hinweisen, die uns vorliegen, existieren nur noch zwei Örtlichkeiten, an denen der alte Zeitrahmen weiterbesteht. Die eine ist dies U-Boot. Die andere ist die Antarktis. Sind Sie jetzt bestürzt?«
    George entsann sich des Buches, aus dem er Holly vorgelesen hatte, Carrie von Cap Cod, in dem es von Muscheln und Einsiedlerkrebsen gewimmelt hatte. Ich bin ein Einsiedlerkrebs, definierte er sich neu. Haltet einen Schweißbrenner an meine Schale, ich werde nichts fühlen. Kratzt mich, und ich leide keinen Schmerz. »Wenn die Zeit knittrig wird, knittert sie eben«, meinte er. »Wir Einsiedlerkrebse werden mit allem fertig.«
    »Was für Krebse?«
    »Einsiedlerkrebse.«
    »Ah ja, Einsiedlerkrebse, gut«, sagte Morning. »Einsiedlerkrebse wohnen in Schneckenschalen, weil sie überleben wollen«, fügte sie versonnen hinzu. »Einsiedlerkrebse glauben an die Zukunft«, lautete die letztendliche Schlußfolgerung von Georges Therapeutin.
    Allmählich macht sie sich um mich Gedanken, überlegte er. Soll ich ihr meinen Leonardo zeigen? (Sehen Sie da, Dr. Valcourt, Sie und ich stehen vor der Bestimmung, zu heiraten und Kinder zu haben.) Nein. Noch nicht. Sie hat keinen Durchblick. Möglicherweise käme das bei ihr wie ein Scherz an, oder sie stufte es als Symptom des Überlebenstraumas ein; oder als abwegigen Verführungsversuch.
    »Jocotepec, Mexiko«, sagte sie.
    George beugte sich ans Okular, drehte am Rändelrad der Schärfeneinstellung.
    »Heute haben wir ’s mit Eis zu tun«, äußerte Morning Valcourt.
    Auf einem zugefrorenen See stand eine Gruppe Bauern. Ruß wallte über den Himmel. Kalter Regen fiel. Den Überlebenden klapperten die Zähne, Wölkchen von Atemluft entfuhren ihren Mündern. Sie trugen nur Lumpen. Viele waren barfuß, hatten blaugefrorene Fußknöchel, schon fehlten Zehen. Ungläubig scharten sie sich ums schwächliche Flackern eines Feuers.
    »Ich dachte, Sie sagten, es wäre Juli.«
    »Es ist Juli. Mittags. Diese Menschen erfrieren. Schuld daran sind die Brände der Städte. In der Atmosphäre ist dermaßen viel Qualm, daß er das normale Sonnenlicht nicht durchläßt. Gegenwärtig beträgt die globale Temperatur im Durchschnitt minus fünfundzwanzig Grad Celsius. Die Rußschicht wandert mit dem Wetter. Im April hat sie den Äquator überquert und im Amazonasbecken Schneestürme verursacht. Die Photosynthese ist zum Erliegen gekommen, der Vegetationsmantel der Erde zerfällt. Viele Jahre lang hat man diese Folgeerscheinung eines atomaren Holocausts nicht vorausgesehen. Dann haben einige Wissenschaftler sie kurz vor dem Krieg doch noch erkannt. Man nennt sie das Sonnentod-Syndrom.«
    Sie verschob den Periskopgriff. Erstarrte Leichen bedeckten den Planeten wie Murksarbeiten eines

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