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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Konfession in der hintersten Bank. Der Bordkaplan war ein Oberleutnant zur See namens Owen Seifenstein. Unter Seifensteins Fittichen fühlte George sich gleich daheim, denn wäre der Kaplan per Geburt zur Welt gekommen, hätte er nach dem Dienst bei der Marine eine langjährige Laufbahn als Unitarier-Geistlicher vor sich gehabt. Der Kaplan erstieg die Kanzel und öffnete eine Annullierten-Bibel. Die Versammlung bewahrte respektvolles Schweigen.
    »Am Ende vernichtete die Menschheit den Himmel und die Erde«, lautete Seifensteins erstes Wort.
    »Ach du Schande«, schimpfte Henker.
    »Völlig einseitige Darstellung«, kritisierte Wengernook.
    »Und die Menschheit sprach: ›Es werde Sicherheit‹, und es ward Sicherheit. Die Menschheit testete die Sicherheit, auf daß es krachen sollte. Und die Menschheit trennte das Uran zweihundertfünfunddreißig vom Uran zweihundertachtunddreißig. Es ward Abend, und es ward Morgen: Das war der Erstschlag.« Seifenstein hob den Blick aus dem Buch. »Manche Kommentatoren sind der Ansicht, der Verfasser hätte an dieser Stelle einsetzen sollen: ›Und die Menschheit sah, daß die Sicherheit schlecht war.‹ Andere halten dem entgegen, daß über diese Einschätzung kein allgemeiner Konsens bestanden hat.«
    »Ich bin nicht hier, um mir solchen Unfug anzuhören«, sagte Wengernook und stand von seinem Platz auf.
    Ein Beben durchzitterte die Kapelle. Die Schotten knarrten. Während Wengernook hinausstapfte, kippte eine mit Lilien gefüllte Vase um und zerschellte.
    »Und die Menschheit sprach: ›Es entstehe ein Völkermorden auf dem Trockenen.‹ Und die Menschheit vergiftete die Quellwasser, die unter dem Trockenen flossen, und sengte das Ozon fort, das über dem Trockenen schwebte. Es ward Abend, und es ward Morgen: Das war der Zweitschlag.« Als sei sie ein Lesezeichen aus Fleisch, beließ Seifenstein die Hand im Buch, als er die Bibel zuklappte. »Viele Kommentatoren lehnen die Verwendung des Begriffs ›Menschheit‹ durch den Verfasser als bombastisch und sentimental ab und führen an, die Schuldzuweisung müßte selektiver vorgenommen werden. Andere Kommentatoren…«
    Inzwischen war die gesamte Kapelle in Bewegung geraten, sie schwankte und schlingerte. Altarkerzen flogen durch die Luft wie Zweiglein im Sturm. Von der Decke lösten sich Nieten und hagelten auf die Sitzreihen und in die Zwischengänge herab. In ihrer Panik warfen sich die Gottesdienstteilnehmer an ihren Plätzen herum und umschlangen die Rücklehnen der Sitzbänke, klammerten sich daran fest wie Menschen, die ein Leben zu verlieren hatten.
    George gelangte zu der Auffassung, keine weitere unvermutete Folgeerscheinung des Atomkriegs mehr verkraften zu können.
    Fortwährend rund- und rundherum trudelte der Raum, kreiste dabei stetig aufwärts, als ob das U-Boot das Gewinde eines gigantischen Korkenziehers hinaufführe. Es hatte den Anschein, als entfesselte diese Kreiselfahrt bei Seifenstein latenten christlichen Fundamentalismus. Er umfing seine Kanzel mit beiden Armen, suchte so entschieden daran Halt wie ein freiwillig ans Steuerrad gebundener Steuermann. Die Predigt des Kaplans steigerte sich zu einer Pech-und-Schwefel-Tirade, bei der er die Augen verdrehte und die Zunge verrenkte, jedes Wort drang als Schrei aus seinem Mund.
    »Die Menschheit sprach: ›Es soll das ultraviolette Licht die Nahrungskette zerstören, die hervorbringt, was an Kreaturen kreucht und fleucht.‹ Es ward Abend, und es ward Morgen…«
    Ein Kerzenleuchter kappte Seifensteins Nase, so daß schwarzes Blut herausschoß. Seine Bibel sauste empor, als jonglierte ein Poltergeist mit ihr, dann durchschlug sie auf einmal in hohem Bogen ein Buntglasfenster. Die Gottesdienstbesucher torkelten in den Mittel- und die Seitengänge, George stotterte irgend etwas vor sich hin, Henker knirschte reichlich Flüche hervor. Unbeugsam an die Kanzel gekrallt, setzte Seifenstein die Predigt aus dem Stegreif fort.
    »Und die Menschheit sprach: ›Es sollen aus dem Himmel Strahlen auf die Überlebenden fallen.‹ Und die Menschheit schuf zwei starke Strahlen, die stärkere Gammastrahlung, um den Menschen die allesdurchdringende Ganzkörperdosis zu schenken, und die schwächere Betastrahlung, um die Pflanzen und die Eingeweide der Tiere zu verbrennen. Die Menschheit machte jedes lebende Geschöpf steril und sprach: ›Seid unfruchtbar und zeugungsunfähig, und mehret euch nicht…‹«
    George flog in die ausgestreckten Arme des Heiligen Sebastian. Als er

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