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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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zweiten Einwand betrifft, gebe ich zu, daß der Untergang der Menschheit jede Richterin und jeden Richter auf dieser Richterbank emotional tief bewegt, und daß darüber hinaus die Beweise zusätzlich unseren Abscheu erregen dürften. Aber es ist unsere berufliche Pflicht, derartige Anwandlungen zu unterdrücken und allen Aussagen unvoreingenommenen Ohrs zu lauschen, und diese Verpflichtung werden wir beachten und erfüllen.« Richterin Jefferson tippte mit der Brille auf den aus Eis geformten Richtertisch. »Ihr Antrag auf Einstellung des Verfahrens ist abgelehnt«, verkündete sie in einem Tonfall, der den Verdacht nahelegte, daß sie in ihrem annullierten Leben so manchen Antrag auf Einstellung des Verfahrens abgeschmettert hätte.
    »Sie uns auch, Euer Ehren«, brummelte Henker.
    »Sie möchten doch nur eine Erklärung haben«, sagte Overwhite.
    »Sie wollen uns baumeln sehen«, sagte Wengernook.
    »Die Anklage wird nunmehr die Anklageerhebung begründen«, gab Richterin Jefferson bekannt.
    *
    Als Alexander Aquinas aufstand, sah George, daß er gegen die Angeklagten in der Tat allerhand Bedrohliches ins Feld zu führen hatte. Der Oberstaatsanwalt maß gut und gerne zwei Meter. Sein Kopf ähnelte einer Büste seiner selbst, wirkte so dickschädelig und rauh, als wäre er aus Stein gehauen, schien überlebensgroß zu sein. Er hatte derartig buschiges, graues Haar und einen so dicken Hals, daß man hätte meinen können, er verfügte über das Erbgut eines Löwen. Gemächlich schritt er nach vorn, drehte sich um und blickte mit der leidenschaftlichen Gefühlsbetontheit eines Menschen, der eine Privataudienz bei einem Engel hatte, die Zuhörer an. Er lächelte.
    »Es steht außer Zweifel, daß heute das bedeutsamste Gerichtsverfahren aller Zeiten eröffnet worden ist. An den ersten Tagen werden uns die großen Fälle von Präjudiz – der Jerusalemer Eichmann-Prozeß, der Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß, die Prozesse gegen Hermann Göring, Rudolf Hess und andere Nazi-Oberhäupter – wie Leuchtbojen längs einer vom Sturm gepeitschten Küste zur Orientierung dienen, aber danach müssen wir gleichsam aufs offene Meer steuern und können uns ausschließlich durch die Erinnerungen unseres vereitelten Menschseins leiten lassen.«
    »Er quasselt sentimentalen Kitsch wie ein junges Mädchen«, tuschelte Henker.
    »Halten Sie doch den Mund«, sagte Overwhite.
    »Wir stehen in einem sonderbaren Verfahren«, setzte Aquinas seine Darlegungen fort. »Es ist sowohl ein Kriegsverbrecherprozeß wie auch ein Prozeß wegen Verbrechens gegen den Frieden, und die Verbrechen gegen den Frieden sind vielleicht verwerflicher – oder wenigstens unbegreiflicher – als die Kriegsverbrechen.« Ruckartig drehte er sich seitwärts und deutete mit langem Zeigefinger vorwurfsvoll auf die Panzerglaskabine der Anklagebank. In seinem wuchtigen Schädel schienen die Augen zu zittern wie pochierte Eier. »Denn diese Männer wußten, was die Wasserstoffbombe anrichten konnte. Sie wußten, daß der Krieg sich nicht in alle Ewigkeit durch Abschreckung, die sie irrig als ›Verteidigung‹ bezeichneten, verhindern ließ. Tatsächlich waren sie oft unter den lautesten, wenn auch beredtsamsten Kritikern der Doktrin des Potentials garantierter gegenseitiger Vernichtung zu hören.«
    George erinnerte seine Spermatiden daran, er und seine fünf Mitangeklagten waren unschuldig.
    »Aber an der Stelle der Vernichtungsdoktrin hatten sie nichts zu bieten. Nein, sie boten etwas, das schlimmer war als nichts. Sie warteten mit ihrer blinden Begeisterung für Atomwaffen auf, einer Vernarrtheit, die in ausgeklügelten Plänen für einen Sieg im Atomkrieg ihren Ausdruck fanden – selbst wenn Sieg möglicherweise bedeutete, um aus einer Rede des Angeklagten Wengernook zu zitieren, daß ›kein Feind am Leben bleibt, aber zwei Amerikaner überleben, ein Mann und eine Frau, und eine neue Menschheit zeugen‹.«
    »Kann man denn nicht mal ’ne harmlose Metapher von sich geben«, beschwerte sich Wengernook, »ohne deswegen gleich vor Gericht geschleppt zu werden?«
    »Glauben Sie wirklich, ein Mann und eine Frau genügten, um noch einmal von vorn anzufangen?« fragte George.
    »Natürlich«, antwortete Wengernook. »Vorausgesetzt freilich, die beiden verstehen sich.«
    Wohlabgewogen steigerte Aquina sich in gerechten Zorn hinein. »Die Menschen hielten ihnen vor: ›So etwas dürft ihr nicht tun.‹ Aber die Angeklagten entgegneten: ›Dagegen seid ihr machtlos.‹

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