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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Die Menschen sagten: ›Wir wollen leben.‹ Aber die Angeklagten zeigten sich verstockt: ›Die Waffen bleiben.‹ Und die Menschen riefen: ›Wir wünschen uns Enkel.‹ Aber die Angeklagten höhnten: ›Seid nicht so idealistisch.‹«
    George sah einen Galgen vor Augen, die Blutskulptur, die Sverres Besatzung beim Festbankett modelliert hatte. In der Schlinge baumelte und troff sein dunkler Leichnam. Er fragte sich, wie es sein mochte, gehängt zu werden. Er malte sich den Augenblick aus, in dem ihm der Boden unter den Füßen verschwand, er dann schnell nach oben haschte, den Strick packte, sich selbst mit starkem, muskulösem Arm ins Leben zurückhob…
    »Die Wasserstoffbombe war ein teures Schätzchen. Beachten Sie, Hohes Gericht, einmal das folgende: 1979 beging man auf diesem Planeten das Internationale Jahr des Kindes. Von den 122 Millionen Kindern, die im selben Jahr geboren wurden, war jedes zehnte 1982 schon tot, und die meisten starben durch Mangel an billigen Nahrungsmitteln und Impfstoffen. Aber die Welt vergeudete 1982 eine Billion Dollar für Waffen. Eine Billion Dollar!«
    Georges Arm rutschte abwärts. Die Schlinge zog sich um seinen Hals zu.
    »Der trägt hier aber ganz schön dick auf«, sagte Henker.
    »Doppelt so dick«, meinte Wengernook.
    »Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf einen späteren Zeitpunkt«, sagte Aquinas. »Im Jahr des Weltuntergangs betrug der Preis eines neuen Raketen-U-Boots die gleiche Summe wie der gemeinsame Bildungshaushalt von dreiundzwanzig sogenannter Entwicklungsländer…«
    Im Laufe der nächsten halben Stunde referierte der Ankläger eine Vielzahl ähnlicher statistischer Angaben und verwendete im Zusammenhang damit häufig das Wort ›Kinder‹.
    »Atomwaffen waren die preisgünstigere Verteidigungsoption«, kommentierte Wengernook. »Geht das denn niemandem in den Kopf hinein?«
    Als Aquinas an seinen Tisch zurückkehrte, reichte ein Staatsanwalt ihm einen Becher heißen Kakaos, ein stellvertretender Staatsanwalt drückte ihm einen Computerausdruck in die Hand.
    »Am Samstag um sieben Uhr vierunddreißig Ostküstenzeit«, sagte Aquinas, »meldeten die Frühwarnsysteme den Start von zehn Kugelblitz-Marschflugkörpern von in Angriffsformation den Nordpolarkreis tangierenden, bemannten russischen Fernbombern. Luftverteidigungs-Computer im Cheyenne Mountain in Colorado berechneten die Flugbahn der Marschflugkörper, nannten Washington im Distrikt Columbia als Ziel und als voraussichtliche Trefferzeit neun Uhr sechs. Anscheinend war ein Präventivschlag mit der primären Absicht, die amerikanische Kommando- und Befehlsinfrastruktur zu enthaupten, eingeleitet worden.«
    Aquinas legte den Ausdruck Richterin Jefferson vor, die ihre Walbeingestell-Brille auf die Nase setzte und das Dokument mit morbider Neugier durchlas.
    »Um sieben Uhr vierzig wurde für die gesamten strategischen Streitkräfte Großalarm gegeben«, nahm der Oberstaatsanwalt den Bericht wieder auf. »Um sieben Uhr zweiundfünfzig verifizierten Satellitenaufnahmen, daß die Ortung auf keine anomalen Phänomene zurückging. Um acht Uhr sieben fingen die Luftverteidigungs-Computer und die Computer des Strategischen Oberkommandos die Erörterung der Optionen an. Die Erörterung endete um acht Uhr acht mit der auf dem HOPPEL-Plan beruhenden Empfehlung der Computer, einen vorsorglichen Vergeltungsschlag gegen russische Interkontinentalraketenstellungen zu führen. Um acht Uhr fünfundzwanzig flog man den Präsidenten per Hubschrauber vom Weißen Haus zum Luftwaffenstützpunkt Andrews, wo er in die Präsidentenmaschine umstieg. Seitdem ist von ihm nichts mehr gehört worden… Und so geriet die Welt in den Atomkrieg. Erstschlag, Zweitschlag, Dritt- und Viertschlag. Man wollte anständig bleiben. Gezielte, sogenannte chirurgische, also selektive Schläge austeilen. Das gegnerische Kriegspotential ausschalten, sonst nichts.« Ein flüchtiges, knappes Lächeln verzog Aquinas’ Miene. »Tja, aber was, wenn zum Kriegspotential auch zivile Bevölkerungsballungszentren zählen? Für diese spezielle Feinheit der Atomkriegsstrategie gibt es eine forsche, bündige Bezeichnung. Dieser Begriff, Hohes Gericht, lautet ›Städteklatschen‹.« Er schleuderte den Becher durch den Gerichtssaal, Kakao spritzte heraus wie der Düsenausstoß einer Rakete. »Aber halt einmal!« brüllte er, als der Becher zerschellte. »Konnten die Oberhäupter der Atommächte nicht vorab erkennen, daß sie das Menschengeschlecht an den

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