So muss die Welt enden
überlassen?«
»Wie Sie sich sicher denken können, Euer Ehren, hätte es eine dramatische Destabilisierung ergeben, wäre eine wirksame Verteidigung gegen Fernraketen nur einer Atommacht verfügbar gewesen.«
»Hätten die Raumforts die Zivilbevölkerung hundertprozentig geschützt?« fragte Aquinas.
»Bei einem Großangriff wären sicherlich trotzdem viele Städte zerstört worden. Die Raumforts hätten im wesentlichen eine Garantie gegen Vertragsuntreue geboten.«
»Weltraumgestützte Verteidigung ohne parallele Abrüstung wäre demnach sinnlos gewesen?«
»Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen – wenn ich mir die Weltgeschichte betrachte, bin ich sogar davon überzeugt –, daß die Raumforts ohne den Einstein-Sechs-Vertrag das ursprüngliche Wettrüsten nur zu neuen Höhepunkten der Psychose gesteigert hätten.« Seevogel deutete auf die vor dem Richtertisch aufgereihten Raketenmodelle aus Eis. »Die Atommächte hätten versucht, ihre Raumforts gegenseitig durch massierte Stationierung offensivfähiger Raketenwaffen zu neutralisieren.«
»Wären weitere Sicherheitsvorkehrungen gegen Vertragsverletzungen vorhanden gewesen?«
»Das Abkommen hätte den Unterzeichnern erlaubt, soviel Zivilschutzbunker zu bauen, wie sie Lust gehabt hätten, und die Erarbeitung solcher dubiosen Relokationsprogramme für Krisenfälle… Sie wissen schon, da wird alles aufs Land geschickt, ja? Zudem wäre ihnen in Europa eine weitgehende Modernisierung der konventionellen Streitkräfte gestattet worden. Schließlich müßten wir ja realistisch sein und Rücksicht auf die wirklichen Verhältnisse in der Welt nehmen.«
George fragte sich, wie Bonenfant wohl Einstein Sechs in der Luft zerreißen könnte. Warum sollte Bonenfant überhaupt gegen so etwas wie Einstein Sechs sein? Um uns zu verteidigen, rief George sich ins Bewußtsein zurück.
»Es wäre wohl ein großer Tag gewesen«, meinte Aquinas, »wenn man diesen Vertrag verabschiedet hätte.«
»Zur Feier des Inkrafttretens hätte man symbolisch zwei Mittelstreckenraketen vernichtet«, sagte Seevogel. »Die UNO hätte sie in die Antarktis verfrachtet. Ich hätte mir alles im Fernsehen angeschaut. Meine Familie und ich, meine Enkel, wir hätten diesen Tag nie vergessen. Wer hätte das je vergessen können? Mittag nach mittlerer Greenwicher Zeit. Ross-Inseln, Antarktika. Ein Wissenschaftlerteam hätte die Zeremonie eröffnet, indem sie aus den Sprengköpfen das spaltbare Material entfernte und der Atomwaffen-Kontrollkommission übergab, die es später mit Uran 238 verdünnt und in einem brasilianischen Atomkraftwerk verbrannt hätte.«
»Damit wären die Raketen entschärft gewesen…«
»Eine amerikanische Nordlicht römisch Drei und eine sowjetische SS Neunzig. Eine Heerespionierabteilung hätte sie auf den Gipfel des Vulkans Mount Erebus befördert und an Ketten befestigt. Und dann hätten die Jugendlichen, ein Dutzend Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Ländern, die Winden gedreht und die Raketen in den Krater hinabgelassen. Erst die mit der amerikanischen Flagge auf dem Rumpf… Sie hätten sie geschmolzen. Dann die mit der russischen Fahne…«
So plötzlich, wie ein Regenschauer die arglosen Teilnehmer eines Picknicks überfallen konnte, brach Seevogel unversehens in Tränen aus. Sein Schluchzen hallte von den glatten, weißen Wänden des Eispalasts wider. Ohne Verlegenheit senkte Aquinas dem Zeugen zum Trost eine Hand auf die Schulter.
»Das sind offenkundig schmerzliche Erinnerungen«, konstatierte der Oberstaatsanwalt.
»Ein paar Minuten später hätten die Feierlichkeiten angefangen.« Mit kurzen Schnippbewegungen seines Zeigefingers spritzte Seevogel sich Tränen aus den Augenwinkeln. »Es wäre wie… Ich weiß nicht. Als ob man die Fußball-Weltmeisterschaft mit ’m Tor in der letzten Minute gewonnen hätte, oder so ähnlich.« Die Stimme des Zeugen klang immer heiserer, während er schilderte, wie Einstein Sechs von den Menschen gefeiert worden wäre; wie sie die Autohupen betätigt, wie die Fabriksirenen geheult hätten, wie man sich zugeprostet, man schulfrei gehabt, vorzeitig Feierabend gemacht, Schweigeminuten eingelegt, Parties veranstaltet, Wildfremden zugelächelte hätte, in die Kirche gegangen wäre… »Stevie wäre durchs ganze Haus stolziert. Er wäre drei gewesen. Er hätte eine kleine amerikanische Fahne geschwungen. ›Opa hat die Bomben abgeschafft‹, hätte er dauernd gerufen. ›Opa hat…‹« Verzweiflung schnürte
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