So nah am Leben
Marsch auf dem Jakobsweg ist ein Teil davon.
Hier auf dem Paß gibt es kaum Schatten, dafür sengende Hitze. Sie braucht eine Weile, bis sie ein Plätzchen für ihre Siesta findet. Der Vormittag war wunderbar. Sie konnte Dank der Achtsamkeitsübungen die Schönheit der Natur genießen wie noch nie zuvor in ihrem Leben, und sie ist ihren Gedanken ein Stückchen auf die Spur gekommen. Ein Lächeln zieht sich über ihr Gesicht, und in ihrem Bauch breitet sich ein wohliges Gefühl tiefer Zufriedenheit aus. Für einen kurzen Moment erlebt sie noch einmal die Sinnesempfindung aus der kleinen Kapelle Santa María de Eunate. Für einen kurzen Moment erlebt sie auch das Gefühl von Demut.
Die Hälfte der Strecke des heutigen Tages hat sie bereits hinter sich. Die restliche Wegstrecke geht sie, ohne sich etwas vorzunehmen. Der veränderte Bewußtseinszustand des Vormittags hält immer noch an. Ihr Schrittempo bleibt langsam, ihre Gedanken besonnen — beides vollzieht sich in vollem Bewußtsein, bis sie am Nachmittag Nájera erreicht.
Das vorbestellte Hotel liegt am zentralen Platz des Ortes, direkt an einem Flüßchen. Sie springt unter die Dusche und möchte den restlichen Nachmittag am Flußufer verbringen. Mit ihrem Allzwecktuch unter dem Arm sucht sie sich ein ruhiges Plätzchen auf dem gepflegten Rasen, der bis an den Fluß heranreicht.
Gerade als sie sich niederläßt und zur großen Brücke hinüber sieht, die über den schmalen Fluß führt, erblickt sie eine Frau, mit Wanderstöcken locker und fröhlich über die Brücke spazieren. Dieser leichte Schritt, das kann nur Maria sein. Der Abstand zu ihr beträgt ungefähr einhundert Meter — zu viel, um sie jetzt einholen zu können, sie würde sie im Menschengetümmel aus den Augen verlieren.
Samantha erinnert sich daran, daß Maria ihr bei einem ihrer letzten Treffen mitteilte, daß sie nach einer Woche Herberge auch mal wieder gern ein eigenes Bad hätte und vielleicht in Nájera in einem Hotel übernachten würde. Kurz entschlossen pfeift Samantha auf zwei Fingern in Marias Richtung — und tatsächlich, Maria dreht sich zu ihr um. Samantha winkt mit beiden Armen und schämt sich jetzt ein bißchen für den Pfiff, aber manchmal heiligt der Zweck eben die Mittel. Maria bleibt stehen, und Samantha geht ihr bis auf die Brücke entgegen. Nach kurzer Lagebesprechung entschließt Maria sich für das Hotel, um ihrem Wunsch nach Privatsphäre nachzugeben. Beide sehen es als eine Art Fügung an, daß sie sich immer wieder treffen, ohne sich zu verabreden.
Dieser Abend gehört ihnen. Sie sind jetzt beide eine Woche unterwegs, haben fast zweihundert Kilometer der Strecke zurückgelegt und treffen sich inmitten des Rioja-Weinbaugebietes. Das sind genug Gründe, um zu feiern!
Da es in den Bars und Bodegas erst gegen einundzwanzig Uhr richtig losgeht, haben sie ausreichend Zeit, um in Ruhe den Dingen nachzugehen, die sie sich vorgenommen hatten. Maria bezieht ihr Zimmer und genießt alle Annehmlichkeiten des Hotels, während Samantha die Herberge sucht, um dort die Sachen zu deponieren, die sie gestern aussortiert hat.
Es dauert eine Weile, bis sie die Herberge findet, die gelben Pfeile schicken sie erst durch die ganze Altstadt, vorbei an sämtlichen Kirchen und sehenswerten Häusern. Dann steht sie vor einem alten, schäbigen Gebäude mit einem neueren Anbau, der diesen Namen eigentlich gar nicht verdient. Im Eingangsbereich stehen die Pilger Schlange, um einen Platz für die Nacht zu bekommen. Es ist eine Herberge, die nicht viel kostet, da ist der Andrang immer groß.
Bevor Samantha diesen Pilgerweg antrat, war sie davon ausgegangen, daß es sich bei der Mehrzahl der Personen, die diesen Weg beschreiten, wohl eher um ältere Menschen handeln würde. Sie ist eines Besseren belehrt worden. Nach ihrer Schätzung sind zur Zeit gewiß achtzig Prozent der Pilger junge Leute im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Am Anfang löste dies bei ihr starke Verwunderung aus, aber im Laufe der Zeit sind ihr die Motive, die junge Menschen dazu bewegen, den Pilgerweg zu gehen, deutlich geworden.
Wer genügend Zeit hat, der kann auf diesem Weg mehrere Dinge unter einen Hut bringen: wochenlang auf einem ausgeschilderten Weg wandern, wobei auch die körperliche Ertüchtigung nicht zu kurz kommt; die Kultur eines Landes kennenlernen; viele Menschen aus allerlei Nationen treffen und Kontakte knüpfen — und dies alles mit relativ kleinen finanziellen Mitteln. Manche Herbergen
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