So nah am Leben
gar nicht aufstehen. Das Bett ist so gemütlich, warm und weich und genau der richtige Platz für ihre strapazierten Glieder. Mehr als eine Woche ist sie jetzt schon unterwegs, fast zweihundert Kilometer hat sie zurückgelegt, und hier im kuscheligen Bett bietet sich die passende Gelegenheit, ein erstes Fazit zu ziehen.
Das Schwergewicht dieser Woche lag ohne jeden Zweifel bei ihrer körperlichen Verfassung. Bei all den schönen Erlebnissen sowie den vielen weiterführenden Gedanken, die sie hatte, waren es dennoch die Schmerzen in ihren Füßen, die sie am meisten beeinflußt haben. Jeder einzelne Schritt war und ist schmerzbegleitet. Es gibt für sie neben der Streckeneinheit eines Kilometers nun noch eine zweite Rechenart. Jeder Kilometer bedeutet auch zwei- bis dreitausend schmerzhafte Schritte. Bei durchschnittlich zwanzig Kilometern am Tag ergibt das vierzig- bis sechzigtausend schmerzhafte Schritte pro Tag.
Sie hat keine einzige Blase, keine einzige Scheuerstelle, aber jedes Auftreten produziert einen großflächigen Schmerz in der Sohle. Es fühlt sich an, als wäre der Fuß von innen her wundgelaufen. Äußerlich hingegen ist nichts zu sehen.
Während der ersten Hälfte ihrer Tagesstrecke kann Samantha das Ausmaß der Schmerzen meist noch recht gut ertragen. Sie wundert sich selbst darüber, daß sie mit einem gewissen Pensum an Schmerz einfach weitergeht, als gehörten die Schmerzen einfach dazu. Nach der Mittagspause schafft dann die Ruhe immer eine gewisse Erleichterung für die nächste Stunde, aber dann, bei den letzten fünf, sechs oder sieben Kilometern, werden die Schmerzen schier unerträglich, und es gab schon so manchen Tag, an dem Samantha sich eher schleppte, als daß man es wirklich hätte „wandern“ nennen können.
Ihren Ehrgeiz hat sie ja bereits zum größten Teil aufgeben können; nichtsdestotrotz steht ihr nur eine bestimmte Zeit von fünfunddreißig Tagen für die achthundert Kilometer der Strecke zur Verfügung. Aus diesem Grunde hatte sie in Deutschland die Route und ihre einzelnen Etappen bereits festgelegt, zwar mit einer gewissen Flexibilität und der Option, daß sie möglicherweise bereits am zweiten oder dritten Tag aufgibt, aber eine bestimmte Kilometeranzahl muß sie schon jeden Tag zurücklegen, wenn sie in Santiago de Compostela ankommen will.
Und so hat ihre mutige Entscheidung, jeweils ihre Füße die Distanz bestimmen zu lassen, unmittelbare Konsequenzen: Wenn ihre Füße nicht mehr laufen können, dann müssen sie eben getragen werden. Ein Fazit dieser ersten Woche ist also, daß es ihr bei diesem Weg nicht wirklich darum gehen kann, jeden einzelnen Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Sie möchte diese Strecke und alles, was am Wegesrand auf sie wartet, erleben. Ob dies nun zu Fuß oder im Bus geschieht, spielt dabei keine maßgebliche Rolle. Begegnungen, die für sie wichtig sind, können und werden so und so stattfinden.
Ein weiteres Fazit ist, daß diese erste Woche in erster Linie ihrem Körper und seiner Anpassung an die außergewöhnliche Situation diente. Seele und Spiritualität sind dabei vorerst im Hintergrund geblieben, obwohl durch Samanthas Themenzettelchen bereits so einiges angestoßen wurde. — So einiges? Was verbirgt sich denn hinter „so einiges“?
An das gestrige Thema kann sich Samantha natürlich noch sehr gut erinnern. Achtsamkeit macht langsam und schärft das Bewußtsein. Vorgestern bestand die Essenz darin, daß der Tod kein Zustand, sondern lediglich ein Übergang unserer Seele ist. Davor hat sie sich mit dem Thema Mut beschäftigt. Sie entsinnt sich, daß es Mut erfordert, die zu sein, die sie geworden ist, und es gehört Mut dazu, den Ehrgeiz aufzugeben, eine andere sein zu wollen.
Richtig, und dann war da noch die Begegnung mit der Demut in der Kapelle Santa Eunate. Das ist ein Thema, mit dem sie wohl noch lange nicht fertig ist. Samantha ahnt, daß es an diesem Punkt in ihrem Leben noch viel Potenzial gibt.
Es dauert ein Weilchen, bis ihr die übrigen Themen wieder ins Gedächtnis kommen. Da waren noch die Einsamkeit als Rache für nicht erfüllte Erwartungen an die Gesellschaft und die Erkenntnis, daß Glück jederzeit zur Verfügung steht, wenn man nur die Tür dafür öffnet. All diese Anstöße lassen Samantha noch einmal tief in die Kissen sinken, und sie spürt, wie gut ihr die dabei empfundene Geborgenheit tut.
Ein Blick aus dem Fenster sagt ihr: Jetzt aber raus aus den Federn! Die Sonne steht schon hoch am Himmel,
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