So nah am Leben
den Eindruck, daß der Fernseher für die Spanier so wichtig ist wie Atemluft. Dieser hier strahlt gerade eine Unterhaltungssendung aus — sehr laut und sehr schrill. Samantha bezahlt und nimmt ihre Bocadillos mit auf das Zimmer.
Mit den Füßen auf der Balkonbrüstung kann sie im Schatten auf die Hauptstraße blicken. Gegenüber vom Hotel befinden sich die Herberge und die Kathedrale. Sie hat in entspannter Stellung alles schön im Blickfeld und muß sich dafür noch nicht einmal bewegen.
Die Abendsonne taucht die Straße in ein warmes, weiches Licht. Langsam läßt auch Samanthas Erschöpfung nach und weicht einer trägen Entspannung. Nach dem geselligen und abwechslungsreichen Abend gestern tut ihr das Alleinsein gut, und so verharrt sie noch weitere Stunden auf ihrem Balkon, ohne sich zu regen und ohne zu denken. Sie befindet sich in einem Zustand, den sie als Einfach-nur-Sein bezeichnet. Ihr Kopf hat jetzt Pause, und selbst ihre Gefühle sind reduziert, das entspannt alle Sinne.
Von einem Augenblick auf den anderen ist Samantha plötzlich hellwach und putzmunter, so als hätte sich ein Schalter umgelegt. Sie hält es nicht mehr auf dem Balkon aus und schlüpft noch einmal in ihre Sachen, um sich doch noch einen Teil der Stadt anzusehen. Wenigstens die Kathedrale, denkt sie, und dann schnappt sie sich ihre Tasche und läuft die Straße entlang.
Gerade hat sie noch das Gefühl gehabt, daß ihr das Alleinsein guttut, und nun erwischt sie sich dabei, wie sie Ausschau nach bekannten Gesichtern hält.
Was ist denn nur in sie gefahren?
Eine Unruhe erfaßt sie und treibt sie weiter durch die kleinen Gassen des Ortes. Sie kommt sich auf einmal fremdgesteuert vor und hat keine Erklärung für ihren Drang, in der Gegend herumzulaufen. Sie läuft immer weiter, getrieben von ihrer inneren Unruhe, und immer auf der Suche nach Pilgern, denen sie bereits begegnet war. Was sucht sie eigentlich? Und wofür braucht sie ausgerechnet jetzt Menschen, die sie kennt und die sie kennen? Was braucht sie wirklich? Und dann durchfährt Samantha der Gedanke, daß sie so gern hören würde, daß sie in Ordnung ist. Daß das, was sie tut, in Ordnung ist. Und daß die Dinge, die sie getan hat, auch in Ordnung waren und daß sie keine Schuld hat... Schuld woran eigentlich? An dem verpaßten Bus heute mittag? An dem Zustand ihrer Füße? Schuld an den Geschehnissen in ihrem Leben?
An einer Straßenecke steht ein Pärchen, das sich streitet. Er dreht sich um und wendet sich zum Gehen ab, während sie ihm nachruft: „Du bis schuld an allem, an meiner ganzen Situation!“
Samantha kommt sich vor wie in einem Film, der vor ihr abläuft, ohne daß sie Einfluß auf seine Handlung hätte. Plötzlich ist die ganze Luft voller Schuldgefühle. Die Schuldgefühle der Frau, die des Mannes und ihre eigenen. Sie kann der Frau nicht weiter zuhören, sie versteht ihr Spanisch nicht mehr, weil die so erregt ist, und auch deshalb, weil sie der Frau nicht mehr zuhören mag.
Ihre eigenen Schuldgefühle füllen sie schmerzlich aus, und sie erkennt, wie viele dieser Gefühle sich in ihr angesammelt haben und in ihr schlummern. Sie weiß nicht, wie sie damit umgehen soll. Es tut so furchtbar weh, an etwas schuld zu sein. Werden ihr die Menschen jemals vergeben können? Sie ist sich ja noch nicht einmal im klaren darüber, was genau ihr vergeben werden soll. Diese Ungewißheit verstärkt ihren Schmerz um so mehr und löst einen Schwall an Traurigkeit in ihr aus.
Völlig außer Atem sucht sie den Weg zurück zum Hotel. Dort flieht sie in ihr Zimmer und wirft sich bäuchlings aufs Bett.
Samantha erholt sich nur sehr langsam. Nach einer Weile rollt sie sich zur Seite und setzt sich auf. Was für ein Anflug war das gerade eben? Das Thema Schuld und Verzeihung hat sie geradezu „überschwemmt“.
In diesem Augenblick fällt ihr auf, daß sie heute ihr Stoffsäckchen noch gar nicht bemüht hat. Sie kramt es hervor und holt alle kleinen Zettel heraus. Tatsächlich, auch das Thema Schuld und Vergebung findet sie auf einem der Zettel wieder. Sie läßt ihn draußen und steckt alle anderen wieder in das Stoffsäckchen. Die Aspekte Schuld und Vergebung haben sich ihr heute ganz von selbst gezeigt, und so nimmt sie sich vor, sie weiterhin im Kopf zu behalten.
Inzwischen ist die Dämmerung über der Stadt hereingebrochen. Auf dem Balkon wird es jetzt feucht. Samantha schließt die Tür und setzt sich an den kleinen Schreibtisch, um das Erlebte zu formulieren,
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