So nah am Leben
schnellen Schritten bewältigt sie den kurzen, aber recht steilen Abstieg und steht vor einem nagelneuen Hostal am Eingang des kleinen Ortes.
In Sekundenschnelle leuchten ihre Augen wieder. Ein Zimmer ist noch frei — und was für eines! Den Rucksack noch auf dem Rücken, läßt sie das Wasser in die strahlend weiße Wanne einlaufen. Ihre verschwitzte und mit Salzrändern versehene Wanderkluft gleitet auf den hübsch gefliesten Fußboden — und Samantha in die Wanne. Funkstille für die nächsten dreißig Minuten. Entspannung durchzieht ihren Körper — mehr will sie nicht.
Ein großes Doppelbett mit neuer Matratze wartet auf sie. Sie muß schmunzeln, weil solche Dinge wie eine neue Matratze auf diesem Weg eine große Bedeutung für sie bekommen haben. Jede Nacht in einem anderen Bett und jede Nacht auf einer anderen Matratze. Sie bewundert ohnehin ihren Rücken, wie er das mitmacht und die tägliche Last des Rucksacks aushält. Er mault nicht, und dafür bedankt sie sich bei ihm.
Sie streckt sich lang aus und genießt die eingetretene Entspannung ihrer Muskeln. Wirklich müde ist sie nicht, und so betrachtet sie aus halbgeschlossenen Augen das Zimmer. Die Möbel sind schlicht und aus poliertem Holz, die Vorhänge am Fenster in zarten Farben gehalten. Ein helles Gelb an den Wänden läßt das einströmende Sonnenlicht noch intensiver erscheinen. Die Fensterscheiben sind mit kleinen gehäkelten Stores bedeckt. Das hat etwas Niedliches, obwohl sie darauf auch hätte verzichten können. Insgesamt ist das Zimmer liebevoll eingerichtet.
Aus dem Dösen ist doch noch ein Tiefschlaf geworden. Und wieder hat sie diesen Traum gehabt. Gewalt, Schmutz und Feuersbrunst, und sie irgendwie mittendrin. Als sie aufwacht, ist sie angstverschwitzt, und ihr Herz pocht wie in Burgos. Sie greift zum Telefon und ruft eine Freundin an, um ihr davon zu erzählen. Samantha muß jetzt mit jemandem darüber sprechen.
Das Klingeln am anderen Ende der Leitung ertönt nur zweimal, und schon hört sie die freundliche und so erfrischend jugendlich klingende Stimme ihrer Freundin. Ihre Schilderung dauert eine Weile, die Freundin hört aufmerksam zu und stellt am Ende nur eine einzige Frage: „Hast du schon mal darüber nachgedacht, ob es vielleicht ein Erlebnis aus einem anderen Leben sein könnte?“ Daran hatte Samantha in der Tat bereits gedacht, aber irgendwie war ihr das zu abgefahren. Zwar ist sie auch der Überzeugung, daß unsere Seelen nicht sterben und deshalb auch wiederkommen können, aber daß ausgerechnet sie die Erinnerung daran erleben sollte, hat sie nicht wirklich in Betracht gezogen.
Das Gespräch bringt noch viele helfende Aspekte zum Vorschein und erinnert sie an Aussagen zu diesem Thema von anderen Menschen. Als Samantha den Telefonhörer schließlich auflegt, kann sie in Erwägung ziehen, daß sie vielleicht in einem anderen Leben in Burgos gelebt hat. Vielleicht ist sie eine von den Frauen gewesen, die im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen gelandet sind. Auch wenn dies merkwürdig klingt, es würde den Traum und ihre Gefühle erklären.
Sie rollt sich vom Bett und zieht sich an. Die späte Nachmittagssonne erwärmt die Luft. Augenscheinlich muß es in der Zeit, in der sie geschlafen hat, geregnet haben. Der Staub ist weggewaschen, und es riecht nach frischem Grün.
Sie schlendert die Straße des kleinen Ortes entlang und fühlt, wie sie ganz langsam wieder in ihrer Mitte ankommt. Dieses Dorf hat etwas Anziehendes für sie. Die meisten Häuser sind verfallen, und die Natur hat die Ruinen wieder in Besitz genommen. Rankengewächse, manchmal sogar Bäume, stehen in den ehemaligen Räumen, die schon seit Jahren ihr Dach eingebüßt haben. Ihr gefällt es, daß nicht alles weggeräumt wird, was nicht mehr gebraucht wird. Es wurde der Natur abgetrotzt, und nun holt sie es sich zurück. Es hat etwas Zyklisches, etwas sehr Natürliches. Etwas Weibliches.
Die Abendsonne taucht alles in ein warmes Licht. An den Mauerresten blühen die Blumen, und die Wasserpfützen spiegeln den Himmel wider. „Hontanas“, diesen Namen wird sie sich merken. Sie spricht ihn ein paarmal aus und spürt in sich hinein. Ein wohliges Gefühl steigt in ihr auf. Hier könnte sie sich vorstellen zu leben. Oder hat sie bereits schon einmal hier gelebt?
Als sie zum Hostal zurückkommt, hat sie die Entscheidung getroffen, noch einen Tag zu bleiben. Die Wirtin ist sehr liebenswert und beginnt ein Gespräch mit ihr. Samantha ist froh, daß die
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