So nah am Leben
sie so weitermacht, wird sie am Ende dieser Reise einen ganzen Schinken vertilgt haben. Nirgends schmeckt ihr der Schinken so gut wie hier in Spanien. Und ohne auf irgendwen oder irgendwas Rücksicht zu nehmen, gönnt sie sich sogar schon am frühen Morgen Knoblauch und Tomate dazu.
Raus aus den Gedanken, rein in die Sachen, und dann späht Samantha erwartungsvoll, was das Frühstück heute zu bieten hat.
Sie hört die Bedienung in der Küche lamentieren, kann aber nur Bruchteile des Gespräches verstehen. Wortfetzen klingen zu ihr herüber, daß sie sich ihr Leben anders vorgestellt hat und daß sie so gern heiraten würde und Kinder hätte. Und die Köchin antwortet so etwas wie: „Ja, ja, so ist das mit unseren Wünschen und Sehnsüchten.“
Das ist heute das zweite Mal, daß sie mit den Sehnsüchten anderer Menschen in Berührung kommt. Das ist auffällig, findet Samantha, und macht es sogleich zu ihrem Tagesthema.
Nach dem Frühstück nimmt sie die schnelle Steigung hinauf auf das Plateau. Sie schaut zurück auf den Weg, den sie gestern gekommen ist. Ihr Blick schweift über die fast unendliche Weite des Bergrückens. Ganz in der Ferne kann sie die nächsten Mesetas sehen. Der Himmel über ihr ist wolkenlos und von hellem, strahlendem Blau. Vor ihr auf dem Weg treibt ein Schäfer seine große Herde auf die leeren Weizenfelder. Neben ihm steht ein Esel, der offensichtlich einen Teil seines Hab und Guts auf dem Rücken trägt. Zwei Hunde helfen in unmerklicher Art und Weise, die Herde zusammenzuhalten. Es fällt kein Wort, kein Pfiff geht. Alles läuft sehr gemächlich und in aller Stille ab.
Hier oben weht heute ein leichter Wind, der die Hitze erträglich macht. Als der Schäfer näherkommt, grüßt Samantha ihn freundlich. Er winkt zurück und über sein Gesicht geht ein Lächeln. Dabei zeigt er ihr fröhlich seinen nahezu zahnlosen Mund. Er mag so Mitte sechzig sein, vielleicht auch ein bißchen älter. Sein Gesicht ist sonnengebräunt und wettergegerbt. Seine Figur ist immer noch athletisch, und seine Hände zeigen Lebenserfahrung.
Er fragt sie, wie es ihr geht und was sie hier tue. Ohne Rucksack und im Kleid sieht sie nicht wie eine Pilgerin aus. Sie erklärt ihm, daß sie sich auf dem Camino einen Tag Pause gönnt und daß sie heute über Sehnsüchte nachdenken möchte.
Sie erschrickt darüber, daß sie ihm das erzählt, und wundert sich, wieso sie das tut. Sicherlich interessiert es ihn wenig, über was sie nachdenken will. Er schaut sie ein Weilchen an und fragt sie dann, ob sie mit ihm und seiner Herde ein Stück gemeinsam gehen will. Ein komisches Angebot — aber was erwartet sie, wenn sie sich so verhält? Sie zögert einen Moment, dann denkt sie: Du hast es jetzt angezettelt, jetzt schau’n wir mal, was daraus wird. Dann geht Samantha durch den Kopf, daß sie sich wahrscheinlich gar nicht weiter mit ihm unterhalten kann, weil ihr Spanisch so spärlich ist, doch sie gehen einfach nebeneinanderher und sprechen erst einmal gar nicht.
Der Schäfer bleibt immer wieder stehen und achtet auf seine Herde. Dann pfeift er zwischen den Fingern, und die Hunde beginnen, die Herde zu umkreisen. Er bindet seinen Esel an einen Strauch, setzt sich am Wegesrand ins Gras, holt seinen Tabaksbeutel heraus und dreht sich langsam, fast behutsam eine Zigarette. Als diese zwischen seinen Lippen verschwindet, deutet er, mit der linken Hand auf den Boden zeigend, an, daß sie sich zu ihm setzen soll.
Jetzt erst merkt Samantha, daß sie immer noch auf dem Weg steht und ihm gedankenverloren zugeschaut hat. Sie zögert noch einen Moment, die Situation erscheint ihr so irreal. Dann setzt sie sich neben ihn, ohne ein Wort zu sagen. Sein Blick geht hinaus in die Ferne. Sie läßt einfach alles so, wie es ist, und wartet ab. Es dauert eine Weile, dann hört sie ihn ein Wort aussprechen, das sie nicht erwartet hat: desire! In perfekter englischer Aussprache kommt dieses Wort über seine Lippen.
Sie fühlt sich ertappt, weil sie nicht damit gerechnet hat, daß dieser einfache Schafhirte ein solch perfektes Englisch sprechen würde. Als könne er auf ihrer Stirn lesen — vielleicht kann er ja — huscht wieder dieses Lächeln über sein Gesicht. Sie möchte ihre Verlegenheit überspielen, aber er winkt ab, alles in Ordnung. Samanthas Verhalten scheint ihm nicht neu zu sein, und es hat ihn offensichtlich auch nicht gekränkt.
Dann wiederholt er es: desire, und in seiner Stimme klingt die Bedeutung dieses Wortes mit:
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