So nah am Leben

Wirtin auch Englisch spricht, und so erzählt sie Samantha von ihren Erlebnissen mit Pilgern und von den wenigen Touristen, die sich hierher verirren. Sie erzählt ihr auch, daß sie erst vor ein paar Jahren hierher gekommen ist und keine Spanierin sei. Samantha bekommt den Eindruck, daß sie nicht so viel Kontakt außerhalb des Ortes hat und sich nun freut, daß ihr jemand zuhört.
    Sie sitzen vor dem Hostal auf einer kleinen Veranda. Am Himmel kreisen Greifvögel. Erst waren es nur drei. Jetzt werden es immer mehr. Samantha schaut ganz gespannt hoch und fängt an zu zählen. Innerhalb einer halben Stunde sind es mehr als ein Dutzend geworden. Es ist ein wunderbares Schauspiel. Sie kreisen in Formation, und dann bricht einer von ihnen aus und stürzt nach unten. Dann kommt er wieder hoch und reiht sich wieder ein. Sodann bricht ein anderer aus der Formation aus und stürzt senkrecht nach unten. Es sieht aus, als hätten die Greifvögel eine gewisse Ordnung darin. Diese Vorführung dauert länger als eine Stunde. Samantha ist so fasziniert, daß sie gar nicht merkt, als die Wirtin ihren Platz verläßt.

    Die Abendstunden empfindet Samantha wie eine unendliche Kostbarkeit. Die Sonne wird wieder milder, und nach dem Regen fühlt sich alles so gut an. In ihr ist wieder Ruhe eingekehrt, und sie schreibt es diesem Ort zu. Hontanas — der Name hat etwas Vertrautes und Wohlklingendes für sie. Samantha erhebt sich von ihrem Stuhl und geht zu der kleinen Kirche hinüber, die soeben geöffnet wurde. Sie setzt sich in die erste Reihe und stellt Gott eine Frage: „Was können wir Menschen gegen Gewalt, Macht und Unterdrückung tun? Woher nehmen wir genug Energie, um sie nicht von anderen stehlen zu müssen?“ Und dann hört sie die Antwort. Es ist nur ein Wort: LIEBE.

    Energie ist Liebe — Liebe ist Energie, geht es ihr durch den Kopf. Wenn wir lieben, erhalten wir aus dieser Liebe heraus die Energie, die wir für ein harmonisches und friedvolles Leben benötigen. Wer liebt, hat immer genügend Lebensenergie, der braucht sie nicht zu stehlen.
    Dann kommt noch eine Erweiterung hinzu: Es geht um die grundsätzliche Liebe. Die Liebe, die alles betrifft — nicht nur die Liebe zwischen zwei Menschen. Es geht um die Liebe zur Natur, zu unserem Planeten. Es geht um eine bedingungslose Liebe, die in erster Linie mit Geben zu tun hat, nicht mit Nehmen. Es ist eine erwachsene Liebe — eine allumfassende Liebe.

Sehnsüchte

    Sehnsüchte sind A usdruck des Urzustandes
    unserer Seele.
    Sie müssen gelebt werden, um zu gesunden.
    Allein darüber nachzudenken, reicht nicht aus.

    Nach fast vierzehn Tagen wird sie heute einen Tag Pause einlegen und ihren Füßen eine echte Erholung gönnen. Samantha ist sehr gespannt, was heute passieren oder auch nicht passieren wird. Einen Plan hat sie wie immer nicht.

    Das Fenster ist weit geöffnet. Die Sonne steht schon ungefähr auf zehn Uhr, als sie vor dem Haus Stimmen vernimmt. Eine etwas leidend klingende Frauenstimme sagt: „...Ich würde gern noch etwas länger bleiben, ich sehne mich nach mehr Ruhe — ich kann nicht mehr.“ Daraufhin antwortet eine ziemlich genervte Männerstimme: „Ich wünschte, du hättest mal ausnahmsweise nichts zu meckern. Ich sehne mich nach mehr Verständnis und will etwas unternehmen.“

    Was für ein Dialog, denkt Samantha. Da sind zwei Menschen gemeinsam auf diesem Weg und haben so unterschiedliche Bedürfnisse und Sehnsüchte. Das sind schwierige Momente auf dem Camino. Diesen langen Weg zu zweit zu gehen, bedarf sehr viel Toleranz und ein Mindestmaß an Übereinstimmung. Sonst geht es schon am Morgen mit den ersten Schwierigkeiten los: Wann stehen wir auf? Gehen wir jetzt oder später? Frühstücken wir hier oder woanders? Gehen wir zu langsam oder zu schnell? Möchtest du hier ein Foto machen und rasten oder woanders?

    Samantha ist der Meinung, daß es am besten ist, wenn jeder den Camino für sich allein geht, ohne auf einen anderen Menschen Rücksicht nehmen zu müssen. Ansonsten besteht die Gefahr, daß der eigene Weg aus lauter Rücksichtnahme sozusagen auf „der Strecke“ bleibt.
    Darüber muß sie glücklicherweise nicht nachdenken. Sie dreht sich noch einmal auf die andere Seite und kuschelt sich in die Federn. Wozu hat sie heute Lust? Was fängt sie mit diesem Tag an?
    Sie malt sich ihr Frühstück aus. Es hat immer die gleiche Zusammensetzung: frisches Brot, Schinken, frisch gepreßter Orangensaft und — wenn verfügbar — ein Ei. Wenn