So nah am Leben
Sehnsucht. Er holt tief Luft, um etwas zu sagen, und bricht dann wieder ab. Sein Blick geht an ihr vorbei in Richtung seiner Herde. Dann dreht er sich unvermittelt zu ihr um und schaut sie direkt an. „Über Sehnsucht sollte man nicht zu lange nachdenken, man muß sie leben!“, sagt er leise, und seine Stimme läßt keinen Zweifel offen, daß er weiß, wovon er spricht.
Und dann erzählt er ihr seine Lebensgeschichte. Er war Manager einer großen Firma, hatte Ehefrau und eine Tochter, Haus und Grundbesitz — sein Leben verlief in geregelten Bahnen, bis... Seine Stimme bricht hier ab, und sie kann ihm ansehen, daß er es jetzt ist, der die Situation irreal empfindet .... bis seine Frau und seine Tochter vor über dreißig Jahren bei einem Unfall ums Leben kamen. Eine Zeit lang habe er sich mit Arbeit zugeschüttet, um den Schmerz und die Sehnsucht nicht spüren zu müssen. Aber das Leben hatte kein Nachsehen mit ihm, und er wurde sehr krank.
Er schaut auf und fragt: „Klassisch, nicht?“ Sie ist von seiner Schilderung so gefangengenommen, daß sie nur nicken kann. Dann fährt er fort: „Plötzlich tauchte die Frage nach dem Sinn des Lebens auf und auch die Frage nach den eigenen Sehnsüchten. Aber ich wollte lieber in meinem Schmerz aufgehen und an meiner Krankheit sterben, als mich damit auseinandersetzen zu müssen. In der Klinik hatte ich dann eine Begegnung, die mir geholfen hat, zu meinen Sehnsüchten zurückzufinden. Von da an hat es nicht mehr lange gedauert, und ich trennte mich von allem Materiellen.“
Er macht eine Pause, aber sie wagt nicht, ihn etwas zu fragen. Sie würde zu gern mehr von ihm erfahren zu dem Thema Sehnsucht. Ganz offensichtlich hat ihr das Leben diese Begegnung geschickt, und jetzt hat sie nicht den Mut, um deutlicher nach der Botschaft zu fragen. Also fragt sie nur: „Und seit dieser Zeit leben Sie mit Ihrer Herde?“ — „Nein, es hat noch lange gedauert, bis ich aufgehört habe, über meine Sehnsüchte nachzudenken und sie endlich zu leben!“ Seine Stimme ist jetzt ganz zärtlich geworden, und Samantha kann spüren, daß sie ihn in seinen Gedanken an seine Frau und seine Tochter gestört hat.
Kaum daß er den Satz zu Ende gesprochen hat, blickt er wieder in die Ferne. Sein Gesicht hat dabei immer noch diesen ruhigen, freundlichen Ausdruck. Sie steht langsam auf und schaut ihn voll Mitgefühl an. „Danke!“, sagt sie leise und kann ihm ansehen, daß er ihre Dankbarkeit fühlen kann. Er nickt, steht auf, bindet seinen Esel los und zieht mit seiner Herde weiter.
Immer noch tief beeindruckt steht sie auf dem Weg und schaut ihm nach. Er geht quer über die Felder, und als sie ihn hinter einer Gruppe von Sträuchern nicht mehr sehen kann, dreht auch sie sich um und geht nachdenklich zurück ins Hotel. Eigentlich hat er alles gesagt. Seine Botschaft ist klar und deutlich: Denke nicht zu lange über deine Sehnsüchte nach, lebe sie!
Aber was macht es uns so schwer, unsere Sehnsüchte zu leben? Wenn wir in uns hineinschauen, dann kennen wir doch unsere Sehnsüchte.
Samantha beginnt ein Experiment mit sich selbst. Welche Sehnsucht verspürt sie in sich? Sie muß zunächst ein bißchen nachdenken — das glaubt sie jedenfalls — , denn sofort stellt sich eine Blockade ein, und ihr Verstand versucht wieder einmal, ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema zu lenken. Nichts da! Dran bleiben!
Sie schließt ihre Augen, so geht es besser. Sie fühlt in sich hinein und stellt sich noch einmal die Frage: Wonach sehne ich mich? Und dann kommt eine Antwort, die sie nicht verhindern kann: Sie möchte lieben dürfen.
Es gibt eine Sehnsucht in ihr, lieben zu dürfen? Das war ihr nicht klar gewesen. Das heißt, sie sehnt sich danach, zu lieben und daß diese Liebe nicht abgewiesen wird. Und jetzt kann sie auf einmal auch spüren, was es ihr die ganze Zeit so schwer gemacht hat, diese Sehnsucht zuzulassen. Es ist der Schmerz, der damit einhergeht. Sie sehnt sich danach zu lieben und kennt gleichzeitig den Schmerz, mit ihrer Liebe abgelehnt zu werden.
Sie versucht, sich aus diesem Gefühl zu befreien und für einen Moment einen klaren Kopf zu bekommen. Es gibt ganz augenscheinlich eine Verbindung zwischen ihren Sehnsüchten und ihren Schmerzen. Sie sehnt sich nach Dingen, die sie nicht hat und die sie deshalb schmerzlich vermißt und die gleichermaßen mit schmerzlichen Erfahrungen verbunden sind. Na klar, wenn die Erfüllung ihrer Sehnsüchte nur dann eine Chance hat, wenn sie
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