So nah am Leben
Lichter in den Häusern gehen an. Ihre Gedanken wandern noch einmal zu ihrer Sehnsucht, mit ihrer Liebe angenommen zu werden, und sie beschließt, sich mit den Verletzungen, die davor gelagert sind, zu beschäftigen. Sind diese erst einmal verschwunden, kann sich die Liebe völlig unbelastet zeigen und wird ganz sicher auch angenommen.
Sie schlendert zurück ins Hostal. Der bunte Haufen Pilger, der sich zum Peregrino-Menü eingefunden hat, ist ausgelassen und ganz augenscheinlich in bester Stimmung. Sie sieht ein bekanntes Gesicht und setzt sich dazu.
Zufrieden mit dem Tag. Zufrieden mit sich.
Seele
Die Seele kommt mit einem Auftrag,
den es zu erinnern gilt.
In ihrer Heimat sind Licht und Liebe
der Urzustand.
Samantha erwacht ausgeruht und in allerbester Stimmung. Der Tag Pause in Hontanas hat ihr unsagbar gut getan. Draußen ist es noch dunkel — aber Samantha kann nichts mehr im Bett halten. Ihre Routine im morgendlichen Ritual des Packens erlaubt ihr einen schnellen Start.
Der kleine Ort liegt noch in tiefem Schlaf und mit ihm die Natur. Es ist kein Laut zu hören, kein Motorengeräusch, kein Vogel — nichts. Samantha geht ganz langsam die kleine Hauptstraße entlang und verspürt das erste Mal ein Gefühl von Abschied. Dieses Dorf hat es ihr angetan, es ruft warme Gefühle in ihr hervor. Sie genießt die absolute Stille der blauen Stunde und achtet darauf, so leise zu gehen, daß sie noch nicht einmal ihren eigenen Schritt hört.
Sie bewegt sich wie eine Katze, um diesen Moment der Stille nicht zu stören. Dieser Moment dauert ungefähr eine halbe Stunde, dann geht die Sonne auf und beschert ihr ein weiteres Mal auf diesem Weg Minuten des Glücks. Samantha begrüßt den leuchtenden Himmelskörper mit einem Dankesgebet.
Um kurz nach acht erreicht Samantha die Ruinen des Klosters von San Anton. Es wurde im 12. Jahrhundert erbaut und zeigt selbst in seinen Ruinen noch eine gewisse Grazie. Die Straße führt heute durch den Gebäudekomplex hindurch. Dort, wo sich früher einmal die Innenräume befanden, sind heute nur noch Reste zu erkennen. Vor einigen dieser Gebäudewinkel hängen Planen. Dahinter stehen Doppelstockbetten — eine Herberge wurde eher provisorisch installiert. Von den eingehenden Spenden werden immer wieder Teile der Ruine erhalten. Es gibt noch einen Orden, der in einem Nachbarhaus sein Domizil hat und nur noch aus einem Mönch besteht.
Es ist ein schöner und kraftvoller Ort. Die Energie, die von ihm ausgeht, deutet nicht auf den Verfall, sondern auf die besondere Schönheit dieses Fleckens hin. Auf der rechten Seite des an der Straße grenzenden Bauteils existieren noch zwei Nischen, in denen in alten Zeiten Brot und Wein oder manchmal auch nur Wasser standen, das für die Pilger als Wegzehrung gedacht war.
Sie macht eine kleine Pause und sucht sich in den Ruinen eine Sitzgelegenheit. Nach sieben Kilometern Strecke kehren nun auch die Schmerzen in den Füßen zurück. Die Geleinlagen, die sie sich für die Schuhe kaufte, polsterten auf den ersten Kilometern so gut, daß sie schmerzfrei laufen konnte. Nun fangen die Schuhe an zu drücken — keine Ahnung, warum.
Samantha sitzt zwischen den Ruinen und atmet die frische, gut riechende Luft tief ein. Die Augen geschlossen, läßt sie die kraftspendenden Energien auf sich wirken. Zwei holländische Frauen kommen hinter einer Plane hervor und suchen sich etwas abseits einen Platz zum Frühstücken. Ihr fröhliches Plaudern holt Samantha aus ihrer Gedankenlosigkeit und Stille heraus, und sie beschließt, sich wieder auf den Weg zu machen.
Der Weg verläuft nun wieder in den Weizenfeldern. So weit ihr Auge sehen kann, liegen gelbe Felder vor ihr. In der Ferne kann man bereits den nächsten Tafelberg ausmachen. Ihr heutiges Ziel ist Castrojeriz, dort wird sie eine Pause machen. Castrojeriz ist gegenwärtig ein winziger Ort mit vier Kirchen. Sie bezeugen, daß hier zu alten Pilgerzeiten viel Umtrieb war. Aber bis dorthin sind es noch ein paar Kilometer.
Der heutige Morgen ist einer der schönsten und friedvollsten auf dem Weg. Es geht ihr gut und ihre Seele ist im Einklang mit sich und der Natur. Das sagt sich so einfach: „Die Seele ist im Einklang mit sich und der Natur.“ Wenn sie doch nur deutlicher herausfinden könnte, was ihre Seele ist und was sie braucht. Seit Jahren macht sie sich schon darüber Gedanken: Wo kommt meine Seele her, wo geht sie hin und — vor allem — was will sie bei mir?
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