So nah am Leben
auch die erfahrenen Schmerzen wieder durchleben muß, dann lieber nicht. Wenn sie all die Ablehnung, die sie in ihrem Leben bereits erfahren hat, nochmals erleben soll, um an ihre dahinter versteckten Sehnsüchte zu kommen, dann verzichtet sie lieber darauf.
Was sind denn überhaupt Sehnsüchte? Wie entstehen sie und inwieweit sind sie globaler Natur?
Sie erinnert sich an das kurze Zwiegespräch heute morgen vor ihrem Fenster. Die Frau sehnte sich nach Ruhe, der Mann nach Verständnis. Die Bedienung sehnte sich nach einer Familie und Samantha nach erwiderter Liebe. Das klingt für sie so, als handele es sich hierbei um Sehnsüchte, die im Grunde genommen jeder haben könnte, nichts Außergewöhnliches also. Das klingt für sie nach Harmonie, Verstehen, Geborgenheit und Liebe, und wahrscheinlich gibt es noch weitere Komponenten. Sie kommen ihr alle so ungemein selbstverständlich vor. Da drängt sich ihr die Frage auf, ob es vielleicht einen bestimmten Teil in ihrem Innern gibt, der sich nach irgend etwas sehnt — ob es sogar in jedem Menschen einen bestimmten Teil gibt, der sich nach etwas Bestimmtem sehnt? Und wenn ja, welcher Teil in ihr ist dies? Sie wiederholt noch einmal die vier Sehnsüchte, die sich ihr heute gezeigt haben: Ruhe und Harmonie, Verständnis, Geborgenheit und Liebe. Welcher Teil in ihr steht für diese Begriffe?
Plötzlich dämmert es ihr, daß es die Seele sein könnte — sein muß — , die sich nach diesem Zustand sehnt. Vielleicht ist es ja der Urzustand der Seele, den sie aufgeben mußte, als sie in die Körperlichkeit eines Menschen eintauchte. Im Verlauf des menschlichen Lebens kommt es dann zu so vielen Verletzungen und schmerzlichen Erfahrungen, daß der ursprüngliche, natürliche Zustand immer mehr verdeckt und vergessen wird und schließlich nur noch als weit entfernte Sehnsucht zu erahnen ist.
Der erste Schritt hin zu unseren Sehnsüchten liegt darin, die Schmerzen von den Sehnsüchten zu trennen. Denn selbst wenn sie ohne Zweifel in einem Bezug zueinander stehen, so wäre es dennoch unangemessen, sie untrennbar miteinander zu verquicken. Wenn wir sie hingegen voneinander trennen und uns beide losgelöst voneinander ansehen, so werden unsere Sehnsüchte wieder freigelegt. Im Grunde geht es darum, sich an etwas zu erinnern, das ganz offensichtlich sehr natürlich ist und das uns allen deshalb auch zusteht: Geborgenheit, Harmonie, Verständnis und Liebe.
Das Experiment hat Samantha gefallen, und die daraus resultierenden warmen Gefühle tragen sie durch den Nachmittag.
Immer wieder gehen ihr die Worte des Schäfers durch den Kopf: Denke nicht zu lange über deine Sehnsüchte nach, lebe sie! Der Schäfer hat recht. Wenn wir unsere Sehnsüchte nicht leben, bleiben sie Sehnsüchte und haben keine Chance, zu einem natürlichen Zustand zu werden.
Weil Samantha die Gedanken zur Sehnsucht so außerordentlich gefallen, beschließt sie, dieses Thema noch tiefer zu durchdringen. Sie überlegt, ob es wohl noch mehr Varianten der Sehnsucht gibt. Die Frau sehnte sich nach Ruhe, der Mann nach Verständnis.
Was steht hinter dem Wunsch nach Ruhe? Vielleicht hat die Frau Anerkennung für ihre erbrachten Leistungen gesucht, oder sie wollte auf ihr Bedürfnis nach nicht zu hoher Belastung aufmerksam machen. Und was würde der Mann ausdrücken, wenn er ihr diese Anerkennung zuteil werden lassen würde? Seine Liebe zu ihr? Und wie sieht es mit ihm aus? Was steckt hinter seiner Sehnsucht nach Verständnis? Sucht er vielleicht ebenfalls Anerkennung für das eigene Tun, und wünscht er sich auch so etwas wie einen Liebesbeweis? Warum möchte die Bedienung so gern eine Familie? Ist die Familie nicht der Ort, an dem sich alle ein Gefühl der Geborgenheit erhoffen? Ein Gefühl der Dazugehörigkeit und des Angenommenseins, ein Gefühl der Liebe?
Bei diesen Gedanken kommt Samantha zu dem Schluß, daß es letztendlich immer um das eine Gefühl geht: die Liebe.
Solange wir nach Liebesbeweisen Ausschau halten, werden unsere Sehnsüchte ganz vielfältige Varianten haben, und zwar genauso viele verschiedene wie es Möglichkeiten für einen Liebesbeweis gibt. Wenn wir tiefer blicken, können wir feststellen, daß sich alles um das kosmische Gefühl dreht, das wir Liebe nennen, und um die Schwingungen, die mit ihr verbunden sind. Liebe ist Energie, die wir brauchen, um gestärkt durchs Leben zu gehen.
Samantha sitzt in der untergehenden Abendsonne und genießt den Anblick des Tales vor ihr. Die ersten
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