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So nah am Leben

So nah am Leben

Titel: So nah am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inaqiawa
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losgewesen. Nur noch ein paar ganz Alte bleiben auf den Bänken unter den Bäumen sitzen. Samantha geht hinaus und setzt sich dazu, um die Abendsonne zu genießen und noch einmal über ihre Ungeduld nachzudenken.

    Es ist ihr klar, daß Ungeduld immer etwas mit Ängsten zu tun hat. Manchmal sind es Ängste, etwas nicht richtig zu machen, etwas zu verlieren oder etwas zu verpassen. Und sie glaubt, daß letzterer Aspekt auf sie zutrifft. Sie möchte auf diesem Weg nichts versäumen, nichts verpassen, und deshalb setzt sie sich immer wieder unter Druck. Möchte mehr Kilometer gehen, möchte mehr Menschen treffen, möchte mehr sehen... immer mehr!
    Samantha hält einen Augenblick inne, dann antwortet sie im Innern auf diese Gedanken mit einem entschiedenen: „NEIN — nicht mehr!“ Sie holt sich das Gefühl der tiefen inneren Zufriedenheit der alten Schamanin zurück in ihr Gedächtnis und beendet den Tag mit dem Bewußtsein, daß alles willkommen ist — wirklich alles — und daß es auf keinen Fall mehr sein muß.

Kind sein

    Kind sein und Eltern sein,
    sind nicht an die Biologie gebunden.
    Es sind Rollen,
    die wechselseitig gelebt werden können —
    ein Leben lang.

    Die Krise scheint fürs Erste überwunden. Heute vormittag läuft Samantha frohen Mutes in Richtung Carrión de los Condes. Durch nicht enden wollende Weizenfelder, immer entlang der Hauptstraße, aber auf eigens für die Pilger angelegten Fußwegen.

    Ihre Stimmung ist gelassener, als sie es nach dem gestrigen Tag erwartet hätte, und so hat sie am Morgen mal wieder in ihr kleines Stoffsäckchen gegriffen und sich ein Thema gewählt.
    Noch achtsamer und geduldiger möchte sie heute mit dem Thema umgehen und einfach nur abwarten, was sich zeigen wird und welche Gedanken sich ihr förmlich aufdrängen. Sie möchte mehr geschehen lassen, weniger wollen.

    Im Reiseführer steht für heute ein Kloster mit Übernachtungsmöglichkeit. Es wird vom Klarissinenorden bewohnt. Darauf hätte sie wirklich mal Lust. In einem Kloster zu übernachten und den Geist der dort wohnenden Frauen zu spüren. Vielleicht kann sie auch an einem Gottesdienst teilnehmen und sich vom Gesang der Nonnen verzaubern lassen. Dabei kommen ihr wieder die Nonnen von Villamayor de Monjardín mit ihren unglaublichen Stimmen in den Sinn.

    Das paßt auch gut zu ihrem Thema: KINDER. Wir sind alle Kinder der Göttin, und wir sind alle Kinder unserer Eltern. Selbst wenn wir keine leiblichen Kinder haben, so gibt es sicher Menschen, mit denen wir eine Beziehung eingegangen sind, in der die Rollen ähnlich verteilt waren oder sind, so daß wir eine Art Elternrolle gelebt haben oder leben.

    Samantha hat diese Erfahrung gemacht. Sie hat bereits so viele Menschen in einer mutterähnlichen Rolle begleitet, daß ihr nie ein Bedauern in den Sinn gekommen ist, daß sie keine leiblichen Kinder hat. Wir treffen immer wieder auf Menschen, die für uns so etwas wie begleitende „Eltern“ sind, und wir treffen immer wieder auf Menschen, in deren Leben wir eine anleitende Rolle spielen.

    Samantha ist es nicht leichtgefallen, ein Kind zu sein. Sie war schon sehr früh auf sich selbst gestellt und hatte das Gefühl, ihr würde etwas Wesentliches fehlen. Heute weiß sie, daß die schönsten Seiten des Kindseins mit den Dingen zu tun haben, die sie damals vermißt hat: Unbeschwertheit, Aufgehobensein, Förderung der Entwicklung und Anleitung. Sie ist ganz sicher, daß ihre Eltern sie auf ihre Art geliebt haben, und sie geht davon aus, daß sie wirklich ihr Bestes gegeben haben.

    Aus Samanthas Sicht war es allerdings nicht das, was sie sich gewünscht hätte, und sie hat lange Jahre ihres Lebens damit verbracht, dem hinterherzutrauern und es nachholen zu wollen. Es hat nicht funktioniert. Wir können die Vergangenheit nicht verändern, aber wir können sie aus einem anderen Blickwinkel sehen.

    Es geht offensichtlich nicht darum, die Dinge zu ändern, sondern sie so zu nehmen, wie sie sich zeigen. Das gilt nicht nur für die Kindheit. Als Samantha lernte, ihre Kindheit so zu sehen, wie sie war, aufhörte, sie bewerten zu wollen, und den Wunsch aufgab, es möge anders gewesen sein, da erst konnte sie Frieden schließen. Frieden mit ihren Eltern, Frieden mit ihren persönlichen Erfahrungen und somit auch Frieden mit sich selbst.

    Rückblickend ist sie ihren Eltern für alles sehr dankbar, denn sie weiß jetzt, daß sich ihre Seele gerade dieses Elternpaar ausgesucht hat, um genau die Entwicklung zu machen,

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