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So nah am Leben

So nah am Leben

Titel: So nah am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inaqiawa
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die der ursprüngliche Plan für sie vorgesehen hat. Und sie ist die geworden, die sie ist, gerade weil sie diese Erfahrung gemacht hat und dieses Leben so gelebt hat.

    Sie läuft durch die Landschaft der Tierra de Campos. Früher gab es hier einmal Weinanbau, Weiden für Viehzucht, Thymian- und Lavendelfelder. Jetzt ist alles gelb — so weit das Auge reicht.

    Auf den Straßen sieht man nur alte Menschen. Eine Frau sitzt vor ihrem kleinen Häuschen und grüßt Samantha freundlich. Samantha erwidert den Gruß und bleibt stehen, in der Hoffnung, daß ihr Spanisch für ein kurzes Gespräch ausreicht. Die alte Frau ist froh über die Pilger, die hier entlangkommen, sie bringen ab und zu ein bißchen Leben in ihren Alltag, sagt sie. Sie erzählt Samantha von früher, daß es hier viel schöner war, bevor die großen Weizenfelder angelegt wurden. Mehr Bienen und so viele Tauben. Und überhaupt, alles war bunter und froher. So viele Menschen seien weggezogen, weil es keine Arbeit mehr gibt. Wie überall ersetzen die wenigen Bauern, die die großen Felder bearbeiten, Menschen durch Maschinen. Die Frau macht einen traurigen Eindruck. „Meine Kinder sind auch weggezogen. Mein Mann ist tot, und nun bin ich hier allein. Ich will nicht in die Stadt zu meinen Kindern. Hier bin ich geboren und hier möchte ich auch sterben. Hoffentlich bald, ich bin schon fast achtzig“, fügt sie noch an.

    Samantha steht da und würde sie gern trösten, aber ihr fällt nichts Kluges ein. Nicht einmal auf deutsch . So nimmt sie sie einfach in den Arm — ganz spontan — , und die Alte läßt es geschehen. Dann schaut sie zu Samantha auf und sagt: „Es hat mich lange niemand mehr berührt. Das tut gut.“

    Die Frau geht in ihr Haus und kommt mit einem Messer, zwei Äpfeln und Wasser wieder heraus. Sie setzt sich zu Samantha und schält die Äpfel. Sie reden nicht mehr, es scheint alles gesagt. Nach einer halben Stunde verabschiedet sich Samantha von ihr, bedankt sich und wünscht der alten Frau alles Gute. Für eine kurze Weile war Samantha ein Kind und die Alte eine Mutter — oder war es umgekehrt?

    Gegen Mittag kommt Samantha in Carrión de los Condes an. Direkt am Ortseingang steht das Kloster Santa Clara, in dem sie heute übernachten möchte. Es ist ein massiver Bau, der zur Straße hin einen sehr abgeschotteten Eindruck macht. Durch einen Torbogen gelangt man in den Klosterhof. Dieser Innenhof vermittelt eine gepflegte Atmosphäre.

    Sie ist zu früh, die Herberge des Klosters ist noch geschlossen. Auf einer kleinen Bank im Innenbereich des Kreuzgangs deponiert sie ihren Rucksack und setzt sich in die Sonne. Allein mit sich, umrahmt von den Klostermauern, versucht sie, die weiblichen Energien aufzunehmen, die sie sich hier erhofft hat. So ganz will ihr das jedoch nicht gelingen.

    Dann kommt eine junge Pilgerin in den Hof. Eine sehr hübsche junge Frau, mager, wie sie heute alle so sind . Ihre Knochen sind überall deutlich zu erkennen, vielleicht hat sie auch auf dem Weg so viel abgenommen. Sie hält sich mit der einen Hand die Magengegend. Das sieht für Samantha ganz nach Unwohlsein aus.
    Samantha spricht sie auf englisch an, und sie führen das Gespräch in englischer Sprache, bis sie beide feststellen, daß sie auch durchaus auf deutsch weitersprechen können. Julia erzählt ihr, daß sie in der Tat ein bißchen Probleme mit dem Magen hat.
    Sie ist mit einer Gruppe junger Leute unterwegs, die sich immer wieder am Abend trifft, so daß jeder sein eigenes Tempo gehen kann. Danach suchen sie sich immer preiswerte Herbergen aus, die über eine Küche verfügen, und kochen dann zusammen. Wenn jeder etwas dazugibt, kommen große Portionen zu kleinen Preisen heraus. Das schont die Urlaubskasse. Julia kann sich noch nicht entschließen, hier zu bleiben, weil noch nicht klar ist, wie hoch die Übernachtungsgebühr ist und ob die anderen auch hier bleiben wollen.

    Während ihres Gespräches kommt ein Mann im blauen Arbeitskittel in den Klosterhof und schließt die Räume und das Büro auf. Samantha ist enttäuscht. Sie hatte auf Frauen aus dem Orden gehofft, warum, weiß sie selbst nicht genau. Aber ihretwegen ist sie hier, und nicht, um einem blaubekittelten Faktotum gegenüberzustehen. Für eine Sekunde überlegt sie, ob sie die Enttäuschung mit einem Rückzug demonstrieren soll, doch ihr Bauch sagt: bleiben.

    Jetzt hat sich auch die junge Frau entschlossen und reserviert gleich für ihre Freunde mit. Der Preis scheint in Ordnung.

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