So nah am Leben
Sie beziehen ihre Betten. Samantha bleibt im Erdgeschoß, während Julia sich und ihren Freunden ein Zimmer im ersten Stock sucht.
In dieser Herberge gibt es eine große und relativ gut ausgestattete Küche. Nachdem Samantha sie inspiziert hat, überlegt sie sich, ob sie hier etwas kochen soll. Zu Hause kocht sie gern, und wenn sie so in sich hineinhorcht, dann hat sie heute auch mal wieder richtig Lust dazu. Sie macht es davon abhängig, ob es im Ort etwas Leckeres zu kaufen gibt.
Während sie durch die Straßen stromert, fällt sie förmlich über einen Fischladen, der so richtig nach „fangfrisch“ aussieht. Keine besondere Ausstattung, dafür aber riesige Kästen mit frischem Fisch und eine Schlange Einheimischer. Das ist immer ein gutes Zeichen. Frischer Fisch und dann noch selbst zubereitet — das ist die Idee — , und dann kommt ihr noch eine viel bessere: Sie kauft die auserlesensten Zutaten für eine riesengroße Paella ein und plant, heute abend die ganze Gruppe der jungen Leute zum Essen einzuladen. Hoffentlich sind sie auch damit einverstanden und haben noch keine anderen Pläne.
Bepackt mit mehreren Tüten kommt sie wieder im Kloster an. Julia sitzt auf der Straße vor dem großen Torbogen und wartet auf ihre Freunde. Samantha erzählt ihr von ihrem Plan, und Julia sagt begeistert zu, ihr beim Zubereiten zu helfen, sobald sie einen anderen aus der Gruppe gesehen hat.
Da stehen sie nun, zwei Frauen aus zwei verschiedenen Generationen, einander völlig fremd, in einer fremden Küche in einem fremden Land und bereiten zusammen ein Essen zu, als hätten sie nie etwas anderes getan. Der Camino bringt wirklich ungewöhnliche Situationen zustande.
Es wird etwas schwierig, die richtigen Kochutensilien zu finden, und vieles müssen sie einfach improvisieren. Das kümmert sie wenig, sie sind fröhlich, und zu guter Letzt bringen sie eine beachtenswerte Paella auf den Tisch.
Mittlerweile sind alle sieben aus der Gruppe eingetroffen und sitzen um den großen Küchentisch herum. Sieben junge Menschen aus sechs verschiedenen Ländern und Kontinenten haben sich auf dem Camino getroffen und gehen jetzt seit fast zwei Wochen miteinander. Daraus haben sich bereits enge Freundschaften entwickelt.
Sie sitzen da, und alle reden gleichzeitig und erzählen sich in einer Mischung aus Englisch und Spanisch die Neuigkeiten des Tages. Samantha sitzt auf einer langen Bank, lehnt sich an die Zimmerwand und schaut sich die Bande an. Ihr kommt der Gedanke: Das könnten vom Alter her alles meine Kinder sein. In diesem Moment erhebt sich Julia und hält eine kleine Rede auf die gute Paella. Sie beendet ihre Worte mit dem Satz: „Du hast uns heute abend umsorgt wie eine Mutter“, und alle klatschen. Als Erinnerung bekommt Samantha eine wunderschöne, winzige Jakobsmuschel zum Anstecken von ihnen geschenkt.
Heute morgen noch hat sie nachgespürt, wie sie sich als Kind gefühlt hat, und nun, ein paar Stunden später, ist sie in der Rolle der Mutter. Ihr Bauch meldet ein Wohlgefühl und zeigt ihr, daß sie wohl beides immer zur gleichen Zeit ist.
Als ergänzenden Part zu ihrer Kinderrolle hat sie auch die Elternrolle für sich definiert. Über allem steht die Liebe zum jeweiligen Menschenkind. Eine Liebe, die mit Güte gepaart ist, die einen Raum schafft, in dem Entwicklung und Individualität gefördert werden, und die die nötige Sicherheit für neue Schritte bietet. In ihrer Vorstellung mischen sich Eltern nicht in ein anderes Leben ein, sondern begleiten es, wenn erwünscht und nötig. Das bloße Wort „Erziehung“ beinhaltet für Samantha ein „Ziehen“ am anderen — eine schreckliche Vorstellung.
An der Stelle, an der Menschenkinder allein verantwortlich ihr Leben gestalten können, endet für sie die Elternrolle. Die Natur macht es vor. Die Jungen werden genau so lange versorgt, bis sie sich allein ernähren können. Sie verlassen das Nest, den Bau oder das Rudel, sobald sie dazu in der Lage sind, und übernehmen dann selbst die Aufzuchtrolle.
Sie erlebt es so häufig, daß die Menschen an ihren Rollen festhalten wollen. Das betrifft die Eltern genauso wie die Kinder. Die Kinder stöhnen häufig, daß die Eltern sie nicht loslassen wollen, aber wenn sie genauer prüfend hinsehen, dann stellt sich oft heraus, daß es auch bei ihnen liegt, daß sie die Fäden nicht kappen wollen. Zu bequem scheint es ihnen, die Verantwortung weiterhin an die Eltern zu delegieren und somit vermeintlich den Preis für das
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