So nah am Leben
alles wieder etwas achtsamer anzugehen und die dabei entstehende Langsamkeit zur Erholung zu nutzen.
Sie fühlt sich sehr kraftlos. Was hat ihr ihre Kraft gestohlen? Welche Gedanken waren die Energieräuber? Sie wollte im Bett bleiben — warum? Nicht denken müssen — warum nicht? Was überfordert sie? Sie sehnt sich nach Erholung — Erholung wovon?
In ihrer Fantasie entsteht ein Bild. Eine alte Frau sitzt am Wegesrand und schaut ihr zu. Sie lächelt sie sanft an. Ihre Bewegungen sind ruhig, fast minimalistisch. Sie ist sehr alt, ihr rundes Gesicht runzelig und faltig. Ihre Augen strahlen Weisheit aus und so endlos viel Ruhe. Um diese Ruhe beneidet Samantha die alte Frau. So würde sie auch gern am Wegesrand sitzen und anderen zuschauen.
Die Alte winkt sie zu sich und bietet ihr an, ganz dicht neben ihr Platz zu nehmen. Samantha berührt sie einen Augenblick, und dann löst sich die Grenze zwischen ihr und der alten Frau plötzlich auf. Alles verschwimmt, als würde sie mit ihr verschmelzen. Ihre Gefühle und Gedanken werden zu den ihren.
Als erstes kann Samantha die innere Ruhe spüren, die von der Frau ausgeht. Es fühlt sich an, als wäre nichts mehr wichtig. Alles ist willkommen, es gibt keine Ansprüche und Erwartungen mehr in ihr. Dann erkennt sie, daß alles, was ist, voller Liebe ist und deshalb willkommen ist. Die Liebe wertet nichts. Die Alte ist die Inkarnation, die Botschafterin dieser Liebe, durch die sie dieses wunderbare Gefühl miterleben darf. Samantha kann die Welt mit ihren Augen sehen. Diese Welt ist farbenfroh, strahlend und harmonisch. Die Pflanzen wirken durch ihre Augen noch viel schöner, die Bäume noch majestätischer und die Erde noch fruchtbarer. Menschen gehen vorüber. Sie tragen einen Lichtschein um ihren Körper, und ihre Herzen sind berührt.
Und die Alte grüßt alle mit ihrer Liebe, ohne ein Wort zu sagen. Jetzt erkennt Samantha sie, es ist die alte Schamanin aus ihrem Tagtraum.
Sie hat sich ihr wieder gezeigt und ihr ein Gefühl von Stille und Ruhe geschenkt. Sie hat ihr mit ihrer imaginären Erscheinung Kraft gegeben. Alles ist Energie, und alle Energie ist Liebe. Ohne konkrete Gedanken bleibt Samantha bei ihr, in ihr und schöpft daraus ihre Kraft. Sie möchte diesen Moment festhalten, möchte das Gefühl des inneren Einklangs nicht mehr loslassen, doch das gelingt leider nicht.
Wanderstöcke klappern hinter ihr, und ein tiefes, kräftig bayerisches „Bonn carminoo“ holt sie aus ihrer Fantasie. Gregor, ein Münchner, gut gelaunt, braungebrannt und kraftgeladen, stakt an ihr vorbei, strahlt sie an und schickt angesichts ihres langsamen Schrittes noch ein „nur Geduld, nur Geduld, auch du kommst an“ hinterher.
Was hat er gerade gesagt? Nur Geduld? Sie glaubt ihren Ohren nicht zu trauen, nimmt seine Worte aber als Hinweis, um doch noch einmal über das Thema Geduld nachzudenken.
Bis nach Frómista ist es jetzt nicht mehr weit. Energetisch aufgetankt läuft sie die letzten Kilometer an einem Bewässerungskanal entlang und freut sich, als sie schließlich ankommt. Das Örtchen war schon in alten Zeiten ein wichtiges Etappenziel auf der Pilgerstrecke. Die Kirche des Heiligen Martin ist eine der größten auf dem Jakobs weg.
Es ist später Nachmittag, als sie eine kleine Pension findet, die ein Zimmer für sie hat. Vor der Pension gibt es eine Art Marktplatz, der jetzt menschenleer ist. Ein Kinderspielplatz ist auch integriert, und von allen Seiten ist der Platz mit Sitzbänken unter den halbhohen Platanen ausgestattet. Die Innenfläche ist mit Sand bedeckt. Solche Plätze hat sie in den kleinen Ortschaften schon viele gesehen. Sie sind die Kommunikationszentralen der Einheimischen.
Samantha vollzieht ihr alltägliches Nachmittagsritual und fällt danach wie immer in einen kurzen Schlaf.
Lachende, lärmende Kinder unter ihrem Fenster und das frohe Treiben auf dem Marktplatz wecken sie gerade rechtzeitig, um das Schauspiel der abendlichen Stunde nicht zu verpassen. Diesmal braucht sie nicht einmal persönlich präsent zu sein, sie kann alles vom Fenster aus miterleben. Alle haben sich wieder feingemacht, die Kinder und die Frauen sind hübsch angezogen, und die Männer stehen zusammen, reden und rauchen. Und wieder kann sie beobachten, wie freundlich die Kinder zueinander sind und wie wunderbar sie miteinander spielen. Diese Dorfidylle erwärmt ihr Herz jedesmal aufs neue .
Eine Stunde später ist der Platz fast menschenleer, so als wäre eben hier nichts
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