So nah am Leben
durch die Ausgangstür.
Draußen ist es noch finster, und sie trägt ihre Stirnlampe, um etwas sehen zu können. Die funzelige Straßenbeleuchtung gibt gerade so viel her, daß sie nicht stolpert. Gestern hat sie drei Anläufe unternommen, um den richten Weg aus Sahagún heraus zu entdecken. Es ist ihr nicht gelungen, und so geht sie zur Herberge zurück, um dort den Pfad der gelben Pfeile wieder aufzunehmen. In der Dunkelheit ist selbst das nicht so einfach. Nach ein paar Straßen und ein paar gelben Pfeilen steht sie plötzlich an einer Kreuzung und kann keine Markierung mehr finden. Samantha hat sich bis jetzt so sehr auf die Muscheln und Zeichen des Pilgerweges verlassen, daß sie die Detailbeschreibungen ihres Reiseführers noch nie benötigt hat.
Sie bleibt stehen und dreht sich langsam im Kreis, um ihre Lampe das Umfeld absuchen zu lassen. Und sie bringt ein Stoßgebet heraus, daß das Universum ihr ein Zeichen geben möge. Die erste Runde bringt kein Ergebnis, also noch mal. In der zweiten Drehung um ihre eigene Achse erkennt sie plötzlich über einer Haustür, ungefähr dreißig Meter entfernt, einen gelben Pfeil, der nach rechts zeigt. Na bitte, geht doch, und vielen Dank an die Helfer im Universum.
Sie weiß das Zeichen zu schätzen und macht sich in diese Richtung auf den Weg. Als sie dann vor der Haustür steht und sich noch mal vor lauter Freude beim Schild selbst bedanken will, traut sie ihren Augen nicht. Auf dem kleinen blauen Schildchen steht eine 38! Wo ist der gelbe Pfeil geblieben? Sie könnte schwören, daß er da war und nach rechts gezeigt hat. Was soll sie denn jetzt machen?
Ganz einfach, sie geht nach rechts. Dorthin, wohin ihr imaginärer Pfeil gezeigt hat. Und tatsächlich, nach wenigen Metern sieht sie wieder die gewohnten gelben Pfeile auf dem Asphalt, am Lampenpfahl und an der nächsten Kreuzung.
Sie könnte jetzt an Zufälle denken oder sich etwas anderes zurechtlegen. Aber es ist, wie es ist.
Im richtigen Moment hat sie etwas gesehen, das ganz offensichtlich nicht da war und das ihr trotzdem den richtigen Weg gezeigt hat. Sie hatte ihre Helfer um ein Zeichen gebeten, und sie haben es ihr geschickt. Ziemlich direkt und ohne Umwege, auch wenn es sie einen Moment lang verwirrt hat.
Ihr Umgang mit solchen Phänomenen ist auf dem Weg noch leichter geworden, weil sie immer mehr erkennt, daß das Leben die richtigen Dinge zusammenfügt. Wir begegnen den Menschen, denen wir begegnen sollen, und wir erleben die Situationen, die wir erleben sollen, um den Weg zu gehen, der für uns vorgesehen ist und um die Aspekte des Lebens zu lernen, die es für uns zu lernen gibt.
Es gab eine Zeit in ihrem Leben, in der sie solche Zusammenhänge für sich abgelehnt hat. Noch vor einigen Jahren wäre ihr das zu abgehoben gewesen.
Inzwischen hat sie erkannt, daß ABLEHNUNG immer mit solchen Dingen zu tun hatte, die sie für sich insgesamt nicht in Betracht gezogen hat — nicht nur an dieser Stelle, sondern auch in anderen Bereichen des Lebens.
Wenn wir ins Leben hineinkommen und uns dann darin zurechtfinden müssen, entstehen sehr oft Situationen, in denen wir uns für etwas entscheiden müssen. Als Kinder lernen wir, daß es nur ein „Entweder-oder“ gibt. Übernehmen wir die Rolle der Stillen, ist die Rolle der Aufmüpfigen für uns verloren. Entscheiden wir uns dafür, im Mittelpunkt zu stehen, ist die Außenseiterrolle passé. Und so entstehen verschiedene Bereiche im Leben, die jeder für sich selbst wählt, und andere, die wir ausgrenzen, verdrängen, uns nicht zugestehen und, damit einhergehend, auch immer ablehnen.
Samantha hat die blaue Stunde für ihren kleinen Gedankenspaziergang genutzt. Ruhe und ein nicht zu beschreibendes Gefühl von Stillstand liegen in der Luft.
Jetzt geht die Sonne auf, und Samantha setzt sich an den Wegesrand, um sie zu begrüßen und ihr zu danken, daß sie heute wieder für sie und alle anderen ihre Bahn zieht. Es sind Minuten, in denen sie absolute Demut empfindet und deutlich spürt, wie privilegiert sie in ihrem Leben ist. Sie darf diesen Weg gehen und darf all das in vollem Bewußtsein und in absoluter Gesundheit erleben.
Als sie aus ihren Gedanken auftaucht, nimmt sie auch wieder den Weg wahr. Hier ist abermals eine Wegstrecke, die eigens für die Pilger angelegt ist. Zwar entspricht der Verlauf der ursprünglichen Route des alten Pilgerweges, wurde aber durchgehend befestigt und mit Feinsplitt bedeckt. Die linke Seite des Weges ist von frisch
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