So nah am Leben
Sehnsüchte finden, die auf einen ziemlich einfachen, wenn auch übergeordneten Nenner gebracht werden können: Wir alle wollen lieben und geliebt werden.
Die Frage, was sich nun wirklich verändert hat, ist bei genauerem Hinsehen nicht wirklich schwer zu beantworten. Es ist die innere Einstellung, nicht die Tatsachen selbst. Durch diese veränderte innere Einstellung verändern sich in der Tat allerdings auch oft die äußeren Umstände. Wenn Samantha zum Beispiel leiser in ihren Tönen geworden ist, dann verändert dies die Art und Weise ihrer Gespräche und kann mittelbaren und/oder unmittelbaren Einfluß ‘ auf andere Menschen haben.
Wenn sie durch den wochenlangen Aufenthalt in der Natur in sich erkennt, daß sie ein Teil des Ganzen ist und daß es in Wirklichkeit gar keine Trennung gibt, dann verändert sich auch ihr Verhalten allem anderen gegenüber. Wenn sie nicht nur Teil des Ganzen, sondern das Ganze auch Teil ihrer selbst ist, dann sind jeder Gedanke und jede Meinung über etwas anderes auch der Gedanke oder die Meinung über sich selbst.
Die Schönheit in der Einfachheit aller Aspekte des Lebens ist ihr auch vor dem Weg das eine oder andere Mal begegnet. Jetzt aber, reduziert auf das Wesentliche, beherrscht die Einfachheit ihren Tag. Und losgelöst von allem Überflüssigen präsentiert sich die Schönheit in ihrer ganzen Dimension und bringt Samantha immer wieder zum Staunen.
Das alles war immer schon da — die Veränderung liegt in ihr, nicht im Außen.
Gleichwohl gibt es auch ständige Veränderungen im Außen, und die Frage ist, wie gehen wir damit um? Nichts bleibt, wie es ist, denn zum einen machen alle Menschen mehr oder weniger diese inneren Veränderungen durch, die dann auch zu äußeren Veränderungen führen, und zum anderen verändert sich auch die Natur im Zyklus. Alles entsteht und alles vergeht im Einklang mit den Jahreszeiten und anderen Rhythmen der Natur.
Da der menschliche Verstand im wesentlichen damit beschäftigt ist, für vermeintliche Sicherheit zu sorgen, begegnet er Veränderungen eher mit Widerstand, sobald es den Anschein hat, daß seine Art von Sicherheit bedroht ist, und das ist bei Veränderungen fast immer der Fall. Wir können also davon ausgehen, daß verstandesgemäß Veränderungen fast immer mit Widerstand begegnet wird, wodurch es nicht gerade leichter wird, ihnen im Leben gerecht zu werden.
Das Ausmaß unserer Angst und die Bedeutung, die wir unserem Verstand in dieser Situation beimessen, entscheidet darüber, wie wir mit Veränderungen umgehen. Hätten wir keine Angst und würden wir äußeren Veränderungen mit unserem Herzen begegnen, würden wir die Chance, die in jeder Veränderung liegt, sehen und sie sogar willkommen heißen können.
Die beiden Frauen haben nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Es ist schon fast zwölf, und sie machen sich startklar. Die Strecke nach Sahagún wird ungefähr eine Stunde dauern.
Als der Bus um die Ecke kommt, steigt eine Gruppe junger Pilgerfrauen mit ein. Sie sehen allesamt eher schmächtig und blaß aus. Samantha fragt sich, was sich diese jungen Frauen alles zumuten. Oft laufen sie weite Etappen und essen kaum etwas.
Diese Gruppe erinnert Samantha ein bißchen an Julia. Was sie wohl gerade macht? Sie hat heute morgen sehr früh die Herberge verlassen, und die beiden haben sich nicht mehr gesehen, Samantha konnte sich nicht mehr von ihr verabschieden. Nach dem intensiven Gespräch von gestern abend wäre es ihr ein Bedürfnis gewesen. Auf dem Camino kann es sein, daß man sich öfter begegnet, aber Julia läuft so große Etappen, daß die Wahrscheinlichkeit dafür eher gering ist.
Auch heute morgen hat sich wieder bestätigt, daß es auf dem Camino nur wenig oberflächliche Gespräche gibt. Wenn es bei einem Kontakt zu einem Gespräch kommt, dann scheint es so, als wolle niemand seine Zeit mit Gerede verschwenden. Jeder auf dem Weg ist mehr oder weniger mit sich allein und hat mehr Zeit zum Nachdenken als in alltäglichen Situationen. Samantha hat die Erfahrung gemacht, daß viele Menschen sehr differenziert denken und dem auch Ausdruck verleihen möchten.
Sie sind ungefähr die Hälfte der Wegstrecke gefahren, als aus den hinteren Reihen des Busses ein kleiner Aufschrei ertönt. Eine der jungen Frauen ist in Ohnmacht gefallen und auf den Boden geglitten. Ganz offensichtlich ist sie nicht wieder zu Bewußtsein zu bringen. Der Rest der Gruppe ist ziemlich in Panik geraten.
Samantha
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