So nah am Leben
erreichen, ist lediglich ein Aufschub unserer persönlichen Entwicklung und eine erneute Verdrängung unserer Situation.
Die heutige Etappe war einige Kilometer kürzer, als Samanthas Füße es sich erbeten hatten, und so sind sie geduldig mit ihr vorangeschritten. Bereits kurz nach Mittag ist sie an ihrem Ziel in El Burgo Ranero, einem kleinen, schäbigen Ort.
Samantha zieht heute nichts mehr nach draußen in die Hitze, und so verkriecht sie sich ins Bett und schreibt ihre Gedanken nieder. Den Rest des Tages möchte sie ganz mit sich allein sein und weiter darüber nachdenken, wo ihre persönlichen Wachstumspotenziale liegen.
Krankheiten
Krankheiten sind Verbündete!
Es ist das Nichtfließen oder das
nicht in ausreichendem Maße Fließen
von Informationen
zwischen Teilen des menschlichen Systems.
Krankheiten haben Machtpotenzial!
Ausgeschlafen springt Samantha aus dem Bett, das heißt, sie wollte aus dem Bett springen. Als ihre Füße auf dem Boden landen, jault sie laut auf. Heute hat sie der Schmerz in den Sohlen voll im Griff. Samantha dehnt die Gymnastikdauer auf das Doppelte aus, aber es bleibt bei dem Versuch, ihre Füße zu überreden.
Sie tröstet sich mit dem Gedanken, daß ihre Füße schon so manchen Morgen nach einer halben Stunde nachgegeben haben und sie ihr Tagespensum dann doch noch schaffen konnte.
Nicht so am heutigen Morgen, und so eiert sie lange dreizehn Kilometer bis zur ersten Rastmöglichkeit im denkbar langsamsten Tempo vorwärts. Das ist heute wieder so ein Tag, an dem sie die Schritte zählt. An einem solchen Tag bedeutet jeder Kilometer dreieinhalb bis viertausend Schritte voller Qual.
Da meldet sich auch schon die innere Stimme in ihr und schreit in ihr inneres Ohr: „Was tust du hier? Ich will nach Hause! Jetzt bin ich schon bald drei Wochen von zu Hause weg. So lange war ich in den vergangenen zwanzig Jahren noch nie von zu Hause weg. Ich will hier weg. Ich will keine Schmerzen mehr haben... ich will nach Hause!“
Samantha kann diese Stimme so gut verstehen. Sie tröstet sie und versucht ihr zu erklären, warum sie nicht nach Hause fährt. Es ist eine Art Auftrag, diesen Weg zu gehen, um weitere Lemschritte im Leben zu machen. Alle Erfahrungen liegen bereits parat, sie muß sie sozusagen nur noch einsammeln, aber dafür muß sie diesen Weg gehen, ihn aushalten. Die Stimme jammert noch ein bißchen vor sich hin, dann gibt sie schließlich auf.
Samantha hat Reliegos erreicht. Eine Bar an der Hauptstraße hat unter ein paar hohen, ausladenden Bäumen für ein paar Plastiktische und — Stühle im Schatten gesorgt. Eine Handvoll Pilger haben sich hier bereits eingefunden. Darunter zwei junge Männer, von denen der eine ebenfalls unter heftigen Schmerzen in den Fußsohlen leidet. Sie setzen sich mit Samantha zusammen, tauschen ihre Erfahrungen aus und jammern sich gegenseitig etwas vor. Wirklich helfen tut das leider nicht.
Samantha eiert und John humpelt. Aber John ist ein ganzer Kerl, ein echter Indianer, der keinen Schmerz kennt, und nach einer Weile setzen die beiden Männer ihren Weg fort.
Samantha trinkt noch einen weiteren Kaffee und überlegt, ob ihre Füße den Druck für die nächsten sechs Kilometer bis ans Ziel aushalten werden oder ob sie besser Ausschau nach einer Sänfte halten soll.
Als sie das Geld für die Rechnung herausholt, fällt ihr das Themensäckchen in die Hand. Also gut, dann wird sie auch noch das Thema für heute ziehen, bevor sie wieder aufbricht. Sie nimmt das winzige Zettelchen heraus und muß ziemlich schmunzeln, als sie das folgende Wort liest: KRANKHEIT! Dieses Thema schließt sich nahtlos an das Thema von gestern an. Zumindest geht es in dieselbe Richtung, denn auch bei Krankheiten handelt es sich im wesentlichen um verdrängte Anteile unseres Selbst.
Wir in der westlichen Welt sind weitestgehend heraus aus dem Überlebenskampf. Wir haben in der Regel genug zu essen, ein Dach über dem Kopf und noch relativ gute Atemluft. Worum geht es dann also bei uns?
Samantha ist der Auffassung, daß es nach dem Stadium des Überlebens um Qualität im Leben geht. Um aber tatsächlich Lebensqualität erlangen zu können, müssen wir uns den Dingen stellen, die wir in den Hintergrund gedrängt haben.
Der menschliche Körper ist ein ganzheitliches System und kann nur dann funktionieren, wenn alle Teile dieses Systems miteinander verbunden sind und der Informationsaustausch frei fließen kann.
Als Menschen lernen wir sehr früh,
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