So nah am Leben
greift ganz automatisch in ihre Bauchtasche und zieht die Notfalltropfen hervor. Nach kurzer Zeit kommt die junge Frau wieder zu sich, sieht aber erbärmlich aus. Eine der Frauen ist zum Fahrer vorgegangen und erklärt ihm die Situation. Seine Reaktion ist auf spanisch : Er sagt, daß er in wenigen Minuten an einem Ort vorbeikommt, in dem ein Krankenhaus ist, und daß er einen Schlenker machen wird, damit sie schnell dorthin käme.
Als der Bus schließlich hält, ist die junge Frau wieder einigermaßen beieinander, aber sehr unsicher auf den Füßen. Gestützt von zwei anderen steigen sie und der Rest der Gruppe aus.
Tatjana und Samantha schauen sich an und denken das gleiche. Dieser Weg ist kein Spaziergang und erfordert ein Mindestmaß an Rücksichtnahme, auch oder insbesondere auf sich selbst. Wenn dieses Maß unterschritten wird, übernimmt der Körper die Regie, um Schlimmeres zu verhindern — wie in diesem Fall. Der Bus fährt wieder an, und Samantha lehnt sich in ihren Sitz zurück.
In den vergangenen Tagen hat sie immer mal wieder darüber nachgedacht, wieviel sie laufen kann und soll und ob dies oder das richtig ist und daß andere es doch ganz anders machen und längere Strecken laufen und so weiter... Das, was sich eben ereignet hat, war noch einmal ein Wink des Lebens, auf nichts anderes zu hören als auf den eigenen Körper und das eigene Gefühl. Während dieser Gedanken spürt sie Entspannung in ihrem Innern. Sie atmet noch einmal tief durch und bedankt sich für die erneute Lektion des Lebens.
Sahagún ist ein kleines Städtchen mit einem quadratischen Hauptplatz. Die Besonderheit hier: Es sind auch am Nachmittag Menschen auf der Straße und in den Cafés und Bars zu sehen.
Samantha sitzt vor einer kleinen Confitería und hat sich ein Stückchen von dem unvergleichlich süßen Kuchen der Spanier bestellt. Ihre Augen halten Ausschau nach bekannten Peregrinos, doch sie können nichts ausmachen. Wahrscheinlich liegen die ersten schon in den Betten und schlafen eine Runde vor. Sie hat von Maria gehört, daß es sinnvoll ist, sehr früh in der Herberge anzukommen. Zum einen, um einen guten Platz zu erwischen und duschen zu können, und zum anderen, um eine Runde vorzuschlafen, bevor die übrigen kommen. Danach ist es immer sehr laut und an eine freie Dusche sowieso nicht mehr zu denken. Wenn die Schlafsäle groß sind, dann haben Menschen mit einem leichten Schlaf aufgrund des „Camino-Sounds“ ohnehin schlechte Karten.
Sie schlendert noch ein bißchen durch die kleine Stadt. Ihr fällt auf, daß hier viele alte Baureste erhalten und in die neuen Gebäude integriert worden sind, so daß Alt und Neu in einem aparten Mix nebeneinander leben dürfen. Mitunter sind dadurch auch skurrile Konstruktionen entstanden, wie zum Beispiel ein modernes Holzdach auf einer alten Klosterruine. Eine der Kirchen läßt Samantha an eine Moschee denken. Runde Baukörper an einem Mittelschiff und ein dazugehöriger Turm, der an ein Minarett erinnert. Eine eigenwillige Architektur.
Als sie wieder in ihrem Hotel angelangt ist, freut sie sich über den Luxus eines Balkons, der sich ihrem Zimmer anfügt, und genießt die Abendsonne.
Ablehnung
Ablehnung zeigt unser
persönliches Wachstumspotenzial.
Wir lehnen im Leben immer die Anteile ab,
die wir verdrängt haben.
Erst wenn wir alles wieder integrieren,
kann Heilung geschehen.
Nachdem sie gestern so viel Zeit in Sahagún verbracht hat, möchte sie heute gern ganz früh weiter. Ihr Wecker klingelt um halb sechs, und sie ist ausgeschlafen und fühlt sich topfit.
Vor dem Aufzug trifft sie ein englisches Ehepaar, das ratlos auf alle Türen starrt. Sie haben darauf vertraut, daß heute morgen um sechs Uhr das Frühstück bereitsteht, so wie es in der Bar angeschlagen war, aber alle Türen sind verschlossen. Jetzt stehen sie zwischen Aufzug und Barraum im Flur und können weder vor, noch zurück. Sie haben ihre Ausweise gestern abend abgegeben und wollten heute morgen auch ihre Rechnung bezahlen. Und nun geht nichts. Keiner weiß, wann hier etwas passieren wird. Auch das ist Spanien.
Sie fragen Samantha, wie sie das denn nun machen würde, und Samantha erzählt ihnen, daß sie ihren Ausweis nie aus der Hand gibt und ihr Zimmer immer bereits am Abend vorher bezahlt, weil es sie unabhängig macht. Samantha ahnt, daß die beiden es in Zukunft ähnlich handhaben werden. Sie wünscht den beiden, daß das Personal möglichst bald erscheinen möge und huscht dann
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