So nah am Leben
bestimmte — nicht erwünschte — Teile in uns zu verdrängen. Wir verdrängen für die Sicherung unseres Überlebens auf Kosten unserer Lebensqualität. Wenn wir jedoch Teile von uns abspalten, werden diese immer stärker und drängen sich bei jeder Gelegenheit wieder in unser Bewußtsein. Abgespaltene Teile führen ein Eigenleben und wollen wieder ins System zurück, da die Natur an Ganzheit, an Wachstum und an Integration interessiert ist.
Das Eigenleben dieser abgespaltenen Teile beeinflußt das restliche System, und zwar in nicht vorhersagbarer Weise. Krankheit ist das Nichtfließen oder das nicht in ausreichendem Maße Fließen von Informationen zwischen Teilen eines menschlichen Systems.
Wenn Samantha sich in ihrer derzeitigen Situation fragt, welche Anteile bezüglich ihrer Schmerzen in den Füßen nicht mit anderen Anteilen fließend kommunizieren, dann hat das ganz sicher etwas mit der Überforderung zu tun, die sie gerade ihrem Körper, und da insbesondere ihren Füßen, zumutet. Bis jetzt ist sie fast jeden Tag mehr als zwanzig Kilometer mit Gepäck gelaufen. Das ist eine Belastung, die so ungewöhnlich für sie ist, daß sie sich nicht zu wundern braucht. Im Augenblick sind es ihre Füße, die eine Blockade für den Fluß darstellen. Die meisten anderen Körperregionen verhalten sich kooperativ. Die Füße tragen aber auch die Hauptlast und haben offensichtlich keine andere Möglichkeit, außer zu blockieren, um sich gegen diese überdimensionale Anforderung zu wehren.
Diese Gedanken verhelfen Samantha zu einer Entscheidung für die restlichen sechs Kilometer des heutigen Weges. In der Bar fragt sie nach einem Taxi und wird auch prompt bedient. In weniger als einer halben Stunde ist sie mit ihrer „Sänfte“ nach Mansilla de las Mulas gelangt. Als sie aus dem Taxi steigt und ihren Rucksack aus dem Kofferraum nimmt, merkt sie, daß sich ihre Füße für die Erholung bedanken und nur noch halb so stark schmerzen. Danke, sie hat verstanden!
Mansilla de las Mulas ist fast vollständig mit einer altertümlichen Stadtmauer umgeben. Die alten Gebäude sind noch erhalten, die meisten davon sogar sehr gut. Samantha sucht in den Straßen nach einem Hostal und findet in der kleinen Gasse ein ganz schnuckelig aussehendes Hotel mit Restaurant.
Ihr Zimmer erinnert sie an die Unterkunft in der alten Stadtvilla in Viana, nur ist es sehr viel komfortabler und nicht so verkommen. Diesmal verfügt das große herrschaftliche Himmelbett sogar über Stoffvorhänge. Das Zimmer ist sonnendurchflutet und sehr geschmackvoll eingerichtet.
Beim Hereinkommen hat sie aus der Entfernung des Eingangsbereiches eine Art Patio gesehen, den will sie sich unbedingt genauer anschauen. Sie liebt die spanischen Innenhöfe und wird auch diesmal nicht enttäuscht.
Der Innenhof ist fast quadratisch. Die Wände sind durch lange, stabile Drähte miteinander verbunden, an denen roter und weißer Wein wächst. Die Weinreben hängen prall mit Beeren von der Konstruktion herunter.
Über den Drähten hängen Stoffbahnen aus Organza in Pastellfarben, die durch die Sonne leicht ausgeblichen sind und einen romantischen Hauch über alles legen. An den Wänden hängen alte Gebrauchsgegenstände. Die meisten stammen aus dem Ackerbau, und es sieht ein bißchen so aus, als würden die Sachen zu einem kleinen Museum zusammengetragen. Ein alter Beerenlesetisch hat eine Glasplatte erhalten, auf dem antiquarische Bücher liegen. Und ‘ zwischendrin ranken die Bougainvilleen und blühen in den prächtigsten Farben. Überall dort, wo an den Wänden keine Rankenpflanzen greifen, stehen kleine Kübel mit Sommerblumen auf dem Boden und verteilen im Raum Farbkleckse.
Samantha ist verzaubert. Das durch die pastellenen Stoffbahnen gemilderte Sonnenlicht durchströmt die Luft. Der Duft der Blumen hängt im Raum und verwöhnt ihre Nase. Hier stimmt alles, und die Energie wird durch die Anwesenheit der Besitzerin noch gesteigert. Sie ist eine Frau mit Charisma. Zurückhaltend und dennoch präsent in einer Kombination, die ihresgleichen sucht. Ihr freundliches Lächeln kommt von innen heraus und verleiht ihrem Gesicht Grazie.
Sie sieht Samantha kommen und bietet ihr einen Platz an einem der schlichten Holztische an. Samantha bestellt sich ein Glas Orangensaft und bittet um die Speisekarte.
Die Küche des Restaurants macht erst wieder in zwei Stunden auf, und so hat Samantha genügend Zeit, um diesen wunderbaren Ort und das Gefühl des Verzaubertseins zu
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