So nah am Leben
gepflanzten Platanen gesäumt und wird in späteren Jahren einmal Schatten spenden. Heute morgen ist es nicht so heiß, und so kommt Samantha auch noch gut ohne deren Schatten aus.
In regelmäßigen Abständen wurden Bänke am Wegesrand aufgestellt. Bei der Materialwahl haben die Initiatoren kein gutes Händchen bewiesen. Die aus Beton aufgestellten Sitzgelegenheiten sind morgens zum Sitzen zu kalt und später in der Sonne zu heiß. Leider gibt es auch keine Entsorgungsmöglichkeit für den Abfall. Und so sieht es bedauerlicherweise in den Gräben rings um die Bänke herum eher wie auf einer Mülldeponie aus. Tausende von Pilgern ziehen hier jährlich vorbei, und augenscheinlich gibt es unter ihnen immer noch Menschen, die sich ihrer Verantwortung der Umwelt gegenüber nicht bewußt sind.
Der Weg zieht sich mit seinem Splittbelag wie ein silbernes Band durch die Landschaft. Immer geradeaus. Da braucht niemand nach gelben Pfeilen und Muscheln Ausschau zu halten — einfach immer nur geradeaus. In Bercianos del Real Camino macht Samantha halt.
Die Architektur in diesem kleinen Dorf wird von Adobe-Bauten bestimmt. Kleine Häuschen, die aus getrocknetem Lehm, vermischt mit Stroh, gebaut sind. Ihre Dächer sind mit Stroh gedeckt.
In einer kleinen Bar bekommt sie ihren Toast mit Schinken. Jetzt sieht sie auch die ersten Pilger. Da Samantha ihren langsamen Schritt geht, überholen sie im Laufe des Vormittags auch diejenigen, die viel später losgegangen sind als sie.
Die Bar füllt sich langsam. Am Nachbartisch sitzen drei deutsche Frauen, die sich ungeniert über andere lustig machen. Im Vorbeigehen vernimmt sie Sätze wie: „Wie kann man nur...“ und „Das kann ich überhaupt nicht ab...“ und „Es ärgert mich immer, wenn...“. Sofort ist sie wieder in ihrem Thema. Es geht um Ablehnung von bestimmten Eigenschaften, Verhaltensweisen und Situationen. Es scheint so, als müsse sich unser Verstand zur Rechtfertigung früherer Entscheidungen nun auch noch ständig dadurch behaupten, daß er die Entscheidungen anderer herabsetzt und sie in ein schlechtes Licht bringt.
Noch viel schlimmer ist aber, daß wir uns die Option nicht offenhalten. Wenn wir uns in Kindertagen für eine bestimmte Rolle entschieden haben, dann halten wir meist ein Leben lang daran fest und sind versucht, die Alternativen schlechtzumachen, oder wir verdrängen sie und bringen uns damit um unser Wachstumspotenzial.
Ursprünglich stehen uns alle Möglichkeiten offen. Erst die Situation, in der wir entscheiden müssen, bestimmt darüber, welche Wahl wir treffen. Unsere Wahl ist in jedem Fall situativ richtig gewesen... aber die Umstände in unserem Leben ändern sich. Wenn wir als Kind in der Familie gut daran getan haben, nicht aufzufallen, um dadurch ungünstige Lebensumstände zu verhindern, heißt das noch lange nicht, daß dies ein Leben lang Gültigkeit hat. Unser Lernpotenzial liegt gerade darin auszuprobieren, wie es ist, sich mal in der anderen Rolle zu erleben. Es muß nicht unbedingt das gegenteilige Extrem sein, aber sich ein Stückchen mehr ins Leben hineinzuwagen, kann wahre Entwicklungswunder bewirken.
Ein weiterer Aspekt besteht darin, daß die ins Exil geschickten Eigenschaften, Fähigkeiten oder Lebenseinstellungen gern wieder aufgenommen und integriert werden wollen. Um physisch und psychisch gesund durchs Leben gehen zu können, müssen wir wieder ganz werden. Das bedeutet, daß die verdrängten, oft ungeliebten Aspekte unseres Seins wieder angenommen werden müssen. Das fällt oft nicht leicht.
Das Paradoxe an der Geschichte ist, daß uns das Leben offensichtlich ständig genau die Situationen beschert, in denen wir mit diesen nicht geliebten Anteilen in Kontakt gebracht werden.
Wie häufig ärgern wir uns über etwas? Wie häufig begegnen wir Lebenseinstellungen anderer Menschen, die wir nicht verstehen oder ablehnen? Wie häufig kommen wir in Situationen, in denen etwas von uns verlangt wird, was vermeintlich unserer Persönlichkeits-Struktur widerspricht?
Alle diese Begebenheiten und Begegnungen schickt uns das Leben als wohlgemeintes Angebot. Es ist ein Angebot für Wachstum, Entwicklung und Integration. Und wenn wir das eine Angebot ablehnen, bekommen wir das nächste geschickt. Das Leben ist unbestechlich und verfolgt mit Hartnäckigkeit unsere Vervollkommnung — ob wir es wollen oder nicht. Wir haben zwar die Möglichkeit, „Nein danke“ zu sagen — davonkommen werden wir jedoch nicht. Was wir damit
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