So nah am Leben
einigen Tagen läuft Samantha ganz allein ihren Weg, ohne Gespräche, nur in ihre eigenen Gedanken vertieft. Heute morgen spürt sie, daß ihr das nicht immer guttut. Sie fühlt sich etwas einsam und sendet den Wunsch nach Gesellschaft ins Universum. Jetzt ist sie gespannt, ob ihr dieser Wunsch erfüllt wird.
Das Gefühl der Einsamkeit drückt sich auch in einer gewissen Trägheit aus. Die Gymnastik zieht sich hin, und es dauert eine kleine Ewigkeit, bis Samantha endlich loskommt.
Der Himmel ist bewölkt, als sie die Straße entlanggeht und auf die altertümliche Esla-Brücke zusteuert, um ihren Weg nach León einzuschlagen.
Plötzlich hört sie hinter sich ihren Namen. Ungläubig dreht sie sich um und erblickt drei Pilger, etwa in ihrem Alter, auf der anderen Brückenseite stehen. Hat sie richtig gehört? Woher kennen die ihren v Namen, und müßte Samantha etwa auch deren Namen kennen? „Das ist aber schön, daß wir Sie treffen“, flötet eine Frauenstimme und spricht sie wieder mit ihrem Namen an. Die beiden Männer drehen sich ein bißchen zur Seite, und dann bemerkt sie, daß die Männer ein Kichern verbergen wollen. Da erlaubt sich doch jemand einen Scherz mit ihr, denkt sie, aber sie bleibt ganz cool. In ihrem Hirn arbeitet es fieberhaft — woher wissen diese Leute ihren Namen?
Sie würde gern witzig reagieren, aber es kommt kein passender Gedanke. Dafür fällt ihr ein, daß das Universum ganz offensichtlich ihren Wunsch erfüllt hat. So antwortet sie mit echter Überzeugung:
„Oh, wie schön, Sie hat mir der Himmel geschickt“, und dann ist ihre Neugier nicht mehr zu bremsen. „Würden Sie mir bitte auch noch verraten, woher Sie meinen Namen kennen?“
Die drei amüsieren sich köstlich über die Situation. „Sie kamen gestern aus der kleinen Kirche, als wir gerade hineingingen. Als wir uns in das Pilgerbuch eintrugen, stand als Letztes Ihr Name, und wir haben Sie heute morgen wiedererkannt und uns beeilt, uns an Ihren Namen zu erinnern. Scheint ja geklappt zu haben.“
Samantha denkt kurz nach, und dann fällt ihr wieder ein, daß sie ja gestern abend noch in die Altstadt gegangen ist und die kleine Kirche gleich um die Ecke besucht hat, um sich ihren Pilgerstempel abzuholen. Es ist üblich, daß man seinen Namen, sein Herkunftsland und den Ort des Beginns seiner Pilgerreise in das Pilgerbuch einträgt.
Nun stellen sich auch die drei anderen vor, und sie beschließen, gemeinsam nach León zu laufen. Sie scheinen einen ähnlich gemütlichen Schritt zu gehen. Ihre Trägheit heute morgen war offensichtlich Plan des Universums, sonst wäre sie ja viel früher unterwegs gewesen und hätte die drei gar nicht erst getroffen.
Samantha freut sich sehr, heute nicht allein laufen zu müssen und mal wieder Menschen zum Reden zu haben — und dann auch noch gleich drei so nette und gesprächige!
Nach fünf Kilometern machen sie gemeinsam in Villamoros de Mansilla Rast, nachdem sie sich bei einem Bäcker frisches Brot gekauft haben. Während sie so dasitzen und ein paar Anekdoten aus ihrem Leben erzählen, fällt Samantha ihr Beutelchen aus der Tasche. Das Universum meldet sich mal wieder und möchte, daß sie bei aller Lebenslust auch weiterhin noch ihren Aufgaben nachgeht.
Mit fragenden Augen schauen die drei Samantha an. Die erklärt ihnen, was sich in dem Säckchen befindet, und fragt, ob jemand für sie heute mal das Thema ziehen möchte. Eigentlich wollten alle drei, aber am schnellsten war die Frau — wen wundert’s? Sie war es schließlich auch, die das scherzhafte Vorhaben auf der Brücke in die Tat umgesetzt hat. So sind wir Frauen eben, tatkräftig, schnell und beherzt!
Dann greift die Frau mit spitzen Fingern in das lilafarbene Stoffsäckchen und holt einen kleinen Zettel hervor, auf dem steht: IDENTIFIKATION.
„Na, da haben Sie sich aber schwierige Themen vorgenommen“, sagt sie und runzelt die Stirn. „Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, klingt aber spannend.“
Und dann verändert sich die Stimmung langsam. Vom scherzhaften Geplänkel wandelt sich das Gespräch in ein nachdenkliches und tiefgründiges Betrachten der eigenen Identifikation.
Als erstes kommt die interessante Frage auf, mit was wir uns denn eigentlich identifizieren. Mit dem, was oder wer wir sind — und wer oder was sind wir?
Da kommt eine ganze Menge zusammen: unser Geschlecht, unsere Hautfarbe, unsere Gesinnung, unser Glauben, unsere Wertvorstellungen, unsere Fähigkeiten, unsere Namen, unsere
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