So nah am Leben
Ansichten und vieles mehr. Und zwischendurch stellen sie sich immer wieder die Frage: Ja, sind wir das denn wirklich? Sind wir unsere Wertvorstellungen? Sind wir unser Name? — Irgendwie schon, aber da gibt es auch noch so ein Gefühl und so eine Stimme, die immer wieder sagen: Ja, aber da ist doch noch mehr!
Dann kommen sie auf Redewendungen zu sprechen, die sie so draufhaben: „Wenn ich an meine Rückenschmerzen denke..." oder „Ich habe da meinen festen Standpunkt...“ oder „Ich kann nicht über meinen Schatten springen“ oder „Von meiner Überzeugung werde ich mich nie trennen“ und so weiter.
Was sagen solche Phrasen aus? Sie zeigen zunächst einmal, daß wir solche Aspekte als inhärent und somit als ein Stück unseres Selbst betrachten. Dennoch bleibt die Frage bestehen: Sind wir das tatsächlich? Sind wir unsere Rückenschmerzen? Sind wir unser Standpunkt? Sind wir unsere Überzeugungen? Oder gibt es da noch etwas anderes?
Samantha kennt von der Meditation her ein Spiel, das sie den dreien anbietet. Sie stellen sich im Geiste ein großes, weißes Laken vor und tun dort alles hinein, von dem sie glauben, daß es sie ausmacht.
Sie legen dort all die Aspekte hinein, die sie auf den letzten Kilometern aufgezählt und zusammengetragen haben.
Ist alles drin? Es dauert eine Weile, bis sie das Gefühl haben: So, nun ist alles drin. Und dann kommt die entscheidende Frage: „Wer oder was hat den letzten Aspekt hineingelegt und wen oder was gibt es da außerdem, der oder das das Ganze noch von außen beobachtet? Und plötzlich sind sich alle sicher: Da muß noch etwas anderes sein — aber was?
Dieses Spiel, das im Grunde keines ist, hat die kleine Gruppe über viele Kilometer beschäftigt. Inzwischen sind sie bereits kurz vor León, was nicht zu übersehen ist, da sie durch ein vorgelagertes Industriegebiet laufen müssen. Der Asphalt quält Samanthas Füße, und ihre Augen gleich noch dazu, denn die Bauten sind zum größten Teil eine stilistische Beleidigung.
Da werden ihr zum ersten Mal ganz deutlich die Beweggründe ihrer Füße bewußt: Solange sie auf ordentlichen Wegen durch die Felder gegangen ist, hat sie ihre Füße kaum gespürt. Jetzt, da ihre Füße sie durch diese häßliche Gegend tragen sollen, fangen sie auf der Stelle an zu schmerzen, und das mit jedem Schritt heftiger. Dennoch: Trotz aller Schmerzen muß Samantha über diese Tatsache schmunzeln.
Und sie reagiert sofort. Bei der ersten Bar, die sich ihr in den Weg stellt, verabschiedet sie sich von ihren Begleitern und läßt sie mit der Frage allein, was denn da sonst noch außer all den bereits genannten Aspekten der eigenen Identifikation existieren könnte. Ihr Abschied ist herzlich — die Gruppe zieht weiter — Samantha bleibt zurück und ruht sich aus.
Inzwischen ist es Mittagszeit. Die Sonne steht hoch am Himmel und knallt erbarmungslos auf die Menschen herab. Samantha sucht sich einen Platz im Schatten vor der Bar und bestellt sich Salat und den obligatorischen Kaffee.
Als sie das Gefühl hat, wieder etwas erholter zu sein, begibt sie sich in die Stadt. León hat eine sehr hübsche Innenstadt. Die Kathedrale löst im Gegensatz zu Burgos keinen Schrecken in ihr aus, was noch einmal bestätigt, daß der Vorfall in Burgos konkret an die Stadt und ihre Energien gebunden war.
Die Kathedrale in León wirkt eher freundlich und hell. Samantha nimmt sich noch etwas Zeit, um durch die Gassen zu stromern, und dann entschließt sie sich, nicht in León zu übernachten, sondern die morgige Etappe zu halbieren und heute noch nach Villar de Mazarife zu fahren.
Diese Etappe bietet zwei Optionen. Eine geht fast über die gesamte Länge direkt an der Nationalstraße entlang, die andere ist etwas länger, dafür führt sie über die Dörfer. Im Reiseführer sieht sie, daß es in Villar de Mazarife gleich drei Herbergen und ein Hostal gibt. Sie hat den Eindruck, daß die Route entlang der Nationalstraße eine Art Abkürzung sein könnte. Dieser Gedanke gefällt ihr nicht besonders gut, also wählt sie den Weg über Villar de Mazarife.
Als Samantha in Villar de Mazarife ankommt, traut sie ihren Augen nicht. Ein winziger Ort — aber drei Herbergen — und kein Hostal. Und irgendwie wirkt dieser Ort total tot, wie ausgestorben. Innerhalb von fünf Minuten ist sie einmal um den Ort geschlichen und entscheidet sich dann für die Herberge mit dem angrenzenden Restaurant. Der Wirt zeigt ihr die Zimmer und teilt ihr mit, daß es auch
Weitere Kostenlose Bücher