So nah am Leben
bis sich die Gesellschaft verabschiedet und der Lärm allmählich nachläßt. Es bleiben noch der Wirt und ein weiterer Gast, der die Bar offensichtlich nicht zu verlassen gedenkt. Um drei Uhr morgens endlich verabschiedet der Wirt auch diesen letzten Gast, der bei jedem erneuten „Adiós“ mit seinem Gehstock freudig beschwipst auf die Fliesen klopft. Beim zwanzigsten „Adiós“ gibt Samantha die Hoffnung auf, daß diese Zeremonie jemals zu einem glücklichen Ende führen und sie Schlaf finden wird. Dann verebben die Stimmen und sie fällt in einen Halbschlaf.
Wie aus weiter Ferne vernimmt sie, wie der Wirt die Fensterläden der Bar verschließt und den Schlüssel in der Tür herumdreht. Dann hört sie ein Auto davonfahren und ist im selben Moment schlagartig wach. Sie befindet sich in dieser riesigen Herberge — mutterseelenallein. Hörbar sicher verschlossen — aber allein. Für einen kurzen Moment kommen wilde Fantasien in ihr auf.
Hat der Wirt sie überhaupt auf dem Zettel und ihr einen Schlüssel hingelegt, damit sie morgen früh hier raus kann? Sie stolpert durch den Flur und schleicht sich im Nachthemd nach unten. Alles ist still. Sie kann den Lichtschalter nicht finden und tastet sich im Dunkeln noch eine weitere Treppe hinunter zum Ausgang. Von der Straße her scheint ein funzeliges Licht durch die Eingangstür, das gerade ausreicht, um auf dem Tresen einen Schlüssel zu erkennen. Uff! Samantha stößt einen Seufzer der Erleichterung aus. Dann kehrt sie zurück in ihr überteuertes Einzelzimmer und wünscht sich selbst eine gute Restnacht.
Kontext
Kontext ist der umgebende Zusammenhang.
Auf den Menschen bezogen heißt das:
Das „Höhere Selbst“ ist der Kontext für das,
was wir Identifikation nennen.
Wir sind unser eigener Kontext
und beinhalten damit alles!
Es ist sinnlos, noch länger liegenzubleiben. Samanthas Versuch, in dieser Nacht doch noch etwas Schlaf zu bekommen, ist fehlgeschlagen. Jetzt ist es fünf Uhr in der Früh, und sie macht sich auf, diesem gottverlassenen Haus den Rücken zu kehren. Mit der Stirnlampe auf dem Kopf sucht sie nach dem richtigen Weg, und nach ein paar Querfeldeinabkürzungen ist sie auf der Straße nach Hospital de Örbigo.
Schon nach den ersten Kilometern merkt sie, daß es heute mit den anschwellenden Schmerzen schwierig werden wird, und nimmt sich vor, sich in der nächsten Apotheke ein paar Schmerztabletten zu kaufen. Inzwischen hat sie mitbekommen, daß sehr viele Pilger ohne diese gar nicht zurechtkommen würden. Und sie quält sich jetzt seit über fünfhundert Kilometern! Das möchte sie ändern. Sie hat große Sehnsucht, endlich einmal einen Tag lang schmerzfrei auf ihren Füßen zu stehen.
Der Weg streckt sich endlos dahin. Gegen neun hat sie Hospital de Órbigo erreicht und fühlt sich bereits müde und zerschlagen. In ihrer zutiefst übellaunigen Stimmung wird dieser Ort von ihr mit „tot“ bewertet, und sie läßt sich auch nicht zu einer Besichtigung hinreißen. Um diese Zeit sind die Kirchen meistens ohnehin nicht geöffnet, und enge Gassen hat sie auf den fünfhundert Kilometern bereits unzählige gesehen. Ihr Interesse gilt jetzt dem Weg nach Astorga. Heute abend möchte sie in einem „richtigen“ Ort schlafen gehen. Genug der Wildnis.
Sie fragt sich zur Bushaltestelle nach Astorga durch und wundert sich darüber, daß in so einem kleinen Ort drei verschiedene Beschreibungen des Weges existieren und niemand ihr sagen kann, wann der nächste Bus abfährt. Auf dem Land ist so etwas unglaublich schwierig. So gut ausgeschilderte, einheitliche und übersichtliche Haltestellen zu erwarten, wie man das von Deutschland her kennt, ist hier eine Riesendummheit.
Nach einigem Hin und Her findet Samantha tatsächlich die Bushaltestelle und hofft, daß sie nicht wieder in der falschen Richtung sitzt. Gegenüber der Bushaltestelle befindet sich ein Restaurant, und die Auskunft an der Tankstelle auf der anderen Straßenseite lautet: „Erfragen Sie das bitte im Restaurant.“ Das macht aber erst um vierzehn Uhr auf — jetzt ist es kurz nach zehn. Sie ist so grottenschlecht drauf, daß sie sich auf die Bank an der Haltestelle setzt und einfach nur vor sich hinstarrt.
Nach einer halben Stunde hat sie sich abgeregt und findet langsam wieder zu ihrer Mitte zurück. Dann kommt eine Frau aus einem Haus, das an der Straße liegt, nur zehn Meter entfernt, und Samantha denkt, vielleicht weiß sie ja, wann der Bus fährt. Schließlich wohnt sie so
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