So nah bei dir und doch so fern
Großeltern verletzende Dinge an den Kopf. So sagte er beispielsweise zu meiner Mutter, die ihre Pantoffeln an der Treppe abstellte: »Nimm die da weg, sie gehören da nicht hin.« Ihm war klar geworden, dass fremde Hausschuhe an der Treppe eine weitere Nacht ohne seine Mutter bedeuteten.
Ich war aus dem Koma erwacht und wirkte nicht mehr ganz so tot wie vorher, dennoch befand ich mich in einem schockierenden Zustand. Mark glaubte, ich wolle die Kinder sehen, befürchtete aber, der Anblick ihrer Mutter, die nicht viel besser aussah als Frankensteins Monster, könne eine traumatisierende Wirkung auf sie haben.
Mark arbeitete in einer Firma, die Verbandsmaterial zur Wundbehandlung herstellte, daher war er daran gewöhnt, auf Augenhöhe mit Ärzten und medizinischem Fachpersonal zu kommunizieren. Innerhalb von zwei Wochen bat er alle sechzehn Ärzte der Intensivstation um einen Rat, ob es klug sei, die drei Kinder zu einem Besuch bei ihrer Mutter mitzubringen. Die Antworten liefen jedes Mal aufs selbe raus: Sie waren unbrauchbar.
Sobald eine Frage das Persönliche betraf, gab es keinen medizinischen Ratgeber, dem man hätte folgen können. Aus Angst, sich einer Situation auszusetzen, in der sie eventuell haftbar gemacht werden konnten, gaben die Ärzte alle die bewährte und erprobte Antwort, es gebe keine Richtlinien und einzig Mark könne wissen, wie seine Kinder reagierten. Dies reichte dem Vater nicht, der das Richtige für seine zerbrechliche Familie tun wollte, und so setzte er jeden einzelnen Arzt mit den Worten unter Druck: »Versetzen Sie sich mal in meine Lage, mein Freund, was würden Sie an meiner Stelle tun?«
Seine Hartnäckigkeit muss eine Seite bei den Ärzten berührt haben, die selbst größtenteils in den Vierzigern waren, und ich kann mir nur vorstellen, dass sie endlich ins Grübeln kamen, statt sich wie Halbgötter in Weiß zu gerieren. Einer nach dem anderen gaben sie zu, sie würden ihren Kindern den Besuch erlauben, wenn sie an Marks Stelle wären.
Das war alles, was Mark hören wollte. Am nächsten Tag erschien mein Töchterchen India, die »Mutter meiner Sippschaft«, auf der Intensivstation. Sie war schon immer über ihr Alter hinaus erwachsen und reif gewesen und für ihren Vater eine größere Unterstützung, als sie selbst bemerkte.
Als sie die Intensivstation das erste Mal betrat, begann ich zu weinen. Meine kleine Indi jedoch war bullenstark; innerlich litt sie sicher wie ein Hund, doch sie setzte sich eine Dreiviertelstunde neben mein Bett, streichelte sanft meinen Arm und erzählte mir ohne Unterlass, was sie an jenem Tag in der Schule gemacht hatte, genau so, als sei ich die »normale Mutter«, die in der Küche stand und Tee kochte.
Nach einiger Zeit forderten Hitze und stickige, verbrauchte Luft ihren Zoll, und India begann sich unwohl zu fühlen. Marks Mutter führte sie nach draußen, und der Stress ließ sie erbrechen.
Eine Woche später kam Harvey mit Mark und dessen Mutter zu Besuch. Das war schon erheblich schwieriger, denn Harvey ist ein typischer nur von Fußball und Rugby besessener zehnjähriger Knabe. Nach außen hin wirkt und handelt er knallhart, ein Bündel jungenhafter Energie, ständig im Clinch mit seinem jüngeren Bruder. Doch innerlich ist er überraschend sensibel. Nach Indias erfolgreichem Besuch hatte ihn Mark gefragt, ob auch er mich sehen wolle, und die Antwort war geradeheraus gekommen: »Nein, ich bin noch nicht bereit.«
Das verletzte Mark, doch wollte er keinen Druck ausüben, schließlich war es Harveys Sache, die Entscheidung zu treffen. Als er schließlich so weit war, fragte er Mark eines Tages auf der Fahrt von der Schule: »Kann ich Mama morgen besuchen?«
Unterwegs zum Krankenhaus erkundigte sich Harvey, wie Indias Besuch gelaufen war.
»Papa, wenn es mir schlecht geht, darf ich dann mal raus? Ich will nicht, dass Mama sich aufregt.« Hier war ein zehnjähriger Junge, der seinen natürlichen Beschützer vor seiner eigenen Verwundbarkeit schützen wollte.
Harvey brauchte keine Auszeit. Er saß neben dem Bett, erzählte mir etwas und streichelte meine Hand, während ich weinte. Als die Besuchszeit beendet war, verließ er mich. Auf der Heimfahrt weinte er still vor sich hin. Zu Hause legte er sich ins Bett und weinte weiter. Doch seine Tränen waren anders als jene, die Mark kannte. Sie kamen geräuschlos und flossen in einem fort.
Als Harvey am nächsten Morgen aufstand, um zur Schule zu gehen, war er immer noch den Tränen nahe und
Weitere Kostenlose Bücher