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So nah bei dir und doch so fern

So nah bei dir und doch so fern

Titel: So nah bei dir und doch so fern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Allatt
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gewesen war.
    In meiner Fantasie war ich wieder achtzehn. Ich verließ mein Zuhause und machte mich auf den Weg nach Amerika, um als Kindermädchen zu arbeiten. Es war Dezember 1988, und ich musste ein Jahr überbrücken. Ich hatte die Erwartungen meiner Lehrer und Eltern übertroffen, indem ich sie mit ordentlichen Schulnoten überraschte. Zwei Mal »Gut« und ein Mal »Befriedigend« in Wirtschaftslehre, Betriebswirtschaft und Sozialkunde bedeuteten, dass ich die Zulassung für die Universität in der Tasche hatte.
    Es gab da nur ein Problem: Da jeder davon ausgegangen war, dass mein Abschluss zu schlecht sein würde, hatte ich mich gar nicht erst an einer der Universitäten beworben. Aufgrund der Schulnoten wurde mir aber für September nächsten Jahres ein Studienplatz an der Fachhochschule in Sheffield angeboten, und daher blieb mir zunächst nichts anderes übrig, als die Zeit mit langweiligen Zeitarbeit Jobs in irgendwelchen Büros zu verbringen.
    Eines Tages stieß ich in The Lady auf die Anzeige einer Au-pair-Agentur in London. Ich witterte die Chance auf ein Abenteuer und überzeugte Dave, mich zu einem Vorstellungsgespräch nach London zu fahren. Noch während der Rückfahrt nach Macclesfield rief die Agentur an und bot mir einen Job in den USA an – in Washington, Virginia.
    Doch das Abenteuer hätte fast ein vorzeitiges schreckliches Ende genommen, bevor es begann. Für den 21. Dezember hatte ich den Pan-Am-Flug 103 von Heathrow nach New York JFK Airport gebucht. Als der Abreisetermin näher rückte, wurde mir allerdings klar, dass ich Weihnachten doch lieber mit meiner Familie verbringen wollte, und so rief ich die Fluggesellschaft an, um meinen Abflug auf Anfang Januar zu verschieben. Dies erwies sich als Fügung des Schicksals, denn sämtliche 243 Passagiere und sechzehn Besatzungsmitglieder der ursprünglich von mir gebuchten Boeing 747 fanden den Tod, als über einer schottischen Stadt an Bord der Maschine eine Bombe explodierte, was als Lockerbie-Anschlag in die Geschichte einging.
    Am 4. Januar nahm ich im Abflugbereich von Heathrow tränenreichen Abschied von meiner Mutter, meinem Vater und Dave, um in ein neues Leben in einem fremden Land zu jetten und dort bei einer Familie zu wohnen, die ich noch nie gesehen hatte.
    In gewissem Sinne war es eine Flucht. Mark I, mein erster ernsthafter Freund, hatte mir den Laufpass gegeben, und mein Herz war immer noch gebrochen. Wir waren drei Jahre zusammen gewesen, und bevor er auftauchte, hatte ich keinerlei Interesse an Jungs gehabt. Ich besaß zwei Brüder, und Jungs nervten grundsätzlich und gehörten zu einer Spezies, der man besser aus dem Wege ging. Amerika gab mir die Chance, zu vergessen und mich einer neuen Herausforderung mit neuen Menschen zu stellen.
    Mein Vater prophezeite mir, ich würde es hassen und mit dem nächsten Flugzeug zurückkommen. Meine Mutter heulte, teilweise weil sie das Gefühl hatte, ihre Tochter zu verlieren, vielleicht aber auch aus Eifersucht, weil ich den Mut besaß, Gelegenheiten beim Schopf zu packen, wenn sie sich boten. In meinem Alter war sie bereits verheiratet und Mutter meines Bruders Paul gewesen. Außerdem machte sie sich Sorgen um meine Sicherheit. Schließlich lag der Lockerbie-Anschlag, dem ich um Haaresbreite entgangen war, noch keine zwei Wochen zurück, und an den Flugsteigen von Heathrow wimmelte es von bewaffneten Polizisten, während Großbritannien seine erste Terrorwarnung erlebte.
    Als ich mich verabschiedete, steckte mir meine Mutter einen Brief zu, den ich in meinen BH stopfte. Darin stand: »Kate, wir lieben Dich sehr und werden Dich vermissen. Du sollst nie das Gefühl haben, alleingelassen zu werden. Wenn Du Geld benötigst oder nach Hause kommen willst, brauchst Du uns nur anzurufen. Wir sind immer für Dich da. Alles Liebe, Mum und Dave.«
    Einen Monat später meldete ich mich telefonisch bei ihnen – um sie zu einem Urlaub einzuladen. Meine Arbeitgeber lebten auf einer großen Ranch im ländlichen Virginia, wo sie Rennpferde züchteten und zuritten. Er war Rechtsanwalt, mochte die Engländer und liebte die Truthahnjagd. Sie war eine reiche Hausfrau, die ihre Zeit damit verbrachte, sich verwöhnen zu lassen und Tennis mit ihrem Trainer zu spielen. Sie hatten einen vier Jahre alten Sohn und eine achtzehn Monate alte Tochter, und meine Aufgabe bestand darin, mich tagsüber um beide zu kümmern. Mir wollte nie einleuchten, weshalb sie mich dort brauchten, wo ihre Mutter doch nicht arbeitete.

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