So nah bei dir und doch so fern
Gestank empfindlich traf. In Wirklichkeit roch ich absolut nichts, doch aus den Augenwinkeln hatte ich beobachten können, wie er ein Tuch aus einer Schachtel mit der Aufschrift »Alkoholtücher« gezogen und das andere Tuch in eine Essigflasche getaucht hatte. Wenn sich einer der Ärzte die Zeit genommen hätte, mich während meines Aufenthalts auf der Intensivstation kennenzulernen, dann hätte er festgestellt, dass ich zwar in meinem Körper gefangen, aber keineswegs blöde war, und dass mein Gehirn auf Hochtouren arbeitete.
Allerdings gab es noch ein Problem, nachdem ich den erforderlichen Test bestanden hatte – ich musste warten. In Osborn 4 gab es zu wenig Betten, denn viele Kranke dort waren Langzeitpatienten mit Rückgrat- und Hirnverletzungen, und Betten waren chronisch Mangelware.
Vier Mal hatte ich mir Hoffnungen gemacht, nur um zu erfahren, dass gerade kein Bett verfügbar war und ich auf der Intensivstation bleiben musste. Dann aber erhielt ich endlich an einem Freitag spätabends, als Mark bereits gegangen und nur Anita noch zu Besuch war, die Nachricht, auf die ich so lange gewartet hatte. Ich durfte umziehen.
Der Umzug selbst erwies sich als schwieriges Unterfangen, denn die Geräte, über die ich beatmet und ernährt wurde, mussten ebenfalls transportiert werden. Der Krankenwagen war bestellt, und in vier Stunden sollte ich verlegt werden. Der Zeitpunkt für einen Umzug erschien etwas seltsam, doch mir war das egal, ich war froh, endlich verschwinden zu können.
Zu einem Lächeln fehlte mir die Gewalt über meine Gesichtsmuskeln, aber innerlich jubelte ich. Anita sah die Freude in meinen Augen und grinste für uns beide wie ein Honigkuchenpferd. Sie nahm ihr Handy und rief Mark an, um ihm die freudige Nachricht mitzuteilen. Für ihn musste es genauso überraschend gekommen sein wie für mich, denn als er mich eine Stunde zuvor verlassen hatte, war noch nicht die Rede davon gewesen, dass ich in dieser Nacht verlegt werden würde.
Mir war es gleich, wie spät es wurde; schließlich warteten keine dringenden Verabredungen auf mich. Ich verließ den Todestrakt. Als das Personal der Intensivstation und die Hilfskräfte meine Sachen zusammensammelten, kam eine der Schwestern, um sich von mir zu verabschieden.
»Alles Gute! Wir werden uns nicht wiedersehen«, sagte sie. Und danach fügte sie etwas hinzu, das einen bleibenden Eindruck bei mir hinterließ: »Ich habe in Osborn 4 gearbeitet, und ich warne Sie. Man wird Sie in der Reha hart rannehmen. Stellen Sie sich also darauf ein, dass schwere Arbeit auf Sie zukommt.«
Auf geht’s! Ich war bereit für eine Herausforderung.
KAPITEL 14
Willkommen in Osborn 4
M it einer Entourage aus Hilfskräften und Schwestern tauchte ich in der neuen Abteilung wie ein Fremder mitten in der Nacht auf. Osborn 4 war im rückwärtigen Flügel des Krankenhauses untergebracht und eines der führenden Rehabilitationszentren für Patienten mit schweren Kopfverletzungen. Benannt nach Sir John Holbrook Osborn, der früher als Abgeordneter von Sheffield Hallam im Unterhaus saß, war die Abteilung in mehrere Bereiche unterteilt, mit einem Schwesternzimmer in der Mitte. Es gab drei Zimmer mit jeweils vier Betten und zwei Einzelzimmer, auf die sich jeder Hoffnungen machte. Im Laufe der Zeit kam ich dahinter, dass die Chance, bald nach Hause zu kommen, umso größer war, je entfernter das Bett vom Schwesternzimmer stand.
Ich wurde in die Überwachungsstation gerollt, ein Zweibettzimmer genau unter der Nase des Pflegepersonals. Ich verstand das als Zeichen dafür, wie schlecht es noch um mich stand. Auch die Frau im Bett mir gegenüber war ernsthaft krank. Ich kam nie dahinter, was ihr fehlte, doch es sah aus, als habe sie einen Verkehrsunfall oder eine andere schwere Verletzung erlitten. Sie war ungefähr fünfundvierzig, konnte nicht sprechen und trug einen Helm, der darauf hindeutete, dass sie schwere Kopfverletzungen davongetragen hatte. Wenn Essenszeit war, musste sie wie ein Baby mit dem Löffel gefüttert werden, doch immerhin konnte sie trotz all ihrer Einschränkungen essen und trinken, was mir versagt blieb.
Kaum war ich in Osborn 4, erlebte ich auch schon die erste Katastrophe, denn mir wurde der Tee entzogen, da er in meine Lunge tröpfelte und mich langsam tötete.
Damit ich nicht missverstanden werde: Osborn 4 war kein Fünf-Sterne-Hotel, aber ich hatte die Hoffnung gehegt, es würde zu meinem eigenen klinischen Äquivalent eines Kurbads werden. In der
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