So nah bei dir und doch so fern
glaubte, wenn der Schlauch erst einmal eingeführt sei, würde er nie wieder entfernt werden. Sie hatte eine Freundin gehabt, die mit einem Luftröhrenschnitt gestorben war. Aus ihrer Erfahrung heraus glaubte sie, dies sei der Anfang vom Ende, und die Tracheotomie bringe Komplikationen mit sich, wie ein erhöhtes Infektionsrisiko und sogar Lungenentzündung, eine der größten tödlichen Gefahren für Locked-in-Syndrom-Patienten. Daher beharrte sie auf ihrem Standpunkt.
Ich andererseits vertraute den Ärzten, als sie sagten, es handle sich nur um eine zeitlich begrenzte Maßnahme, bis ich imstande sei, selbst zu atmen. Es kam mir nicht in den Sinn, dies könne eine dauerhafte Maßnahme sein – ich wollte nur, dass mir diese verfluchten Schläuche aus dem Mund genommen wurden.
Die Ärzte warnten, der Eingriff berge das große Risiko, meine Stimmbänder zu beschädigen. Ich könne eine heisere Stimme zurückbehalten oder meine Stimme ganz verlieren. Selbst das kümmerte mich nicht.
Damals wusste ich noch nicht, dass die Fachärzte prognostiziert hatten, ich würde nie wieder gehen oder sprechen können, denn sie hatten mir ja meine eigene Prognose vorenthalten. Doch in meinem Kopf hatte ich diese Kardinalfrage in der Quiz-Show des Lebens bereits durchgespielt. Vor die Wahl gestellt, ob ich lieber gehen oder sprechen wollte, hatte ich mich immer für das Gehen entschieden. Für mich waren Laufen und Aktivität stets wichtiger gewesen als Reden.
Damit ich nicht missverstanden werde: Die alte Kate konnte sich für eine Sache den Mund fusslig reden. Aber nun war ich überzeugt, es gäbe viele andere Möglichkeiten der Kommunikation – wohingegen es nur eine Möglichkeit des Laufens gab.
So wurde ich also am nächsten Tag nach unten in den Operationssaal gebracht, und unter Vollnarkose führten die Ärzte den Eingriff durch. Gut zwei Monate später war ich den Schlauch in meiner Luftröhre wieder los.
Eine Woche nach dem Eingriff wurde ich erneut in den Operationssaal gebracht, wo mir diesmal eine PEG verpasst wurde – eine »perkutane endoskopische Gastrostomie«. Für mich klang das, als habe ein Spitzenkoch ein besonderes Gericht kreiert. In Wirklichkeit handelte es sich um einen hohlen Plastikstöpsel oder Zapfen, der aussah, als könne man ihn in jedem Campinggeschäft kaufen. Für Schlaganfall-Patienten, deren Schluckvermögen beeinträchtigt ist, war das ein gebräuchlicher Eingriff. Jetzt konnte meine Nahrung direkt über den neuen Zugang in vierstündigem Intervall in den Magen eingeführt werden statt über den Schlauch in meiner Nase. Das hieß, es gab noch einen Schlauch weniger, der mich irritierte, und auch das Risiko einer Lungenentzündung verringerte sich dadurch.
KAPITEL 10
Wieder achtzehn
J edes Mal, wenn mich meine Freundinnen Alison, Anita und Jaqui besuchten, kämpften sie um das Gesprächsthema. Wovon sollten sie berichten? Es erschien ihnen zu grausam, mir Geschichten über ihre alltäglichen Dinge und von den großen Läufen zu erzählen, an denen sie sich beteiligt hatten, während ich völlig bewegungsunfähig im Bett lag. Daher kamen sie letztlich immer auf meine Kinder zu sprechen. Ihnen ging es darum, nichts Unbedachtes zu sagen, das mich eventuell aufregen könnte, und so legten sie sich bereits vor ihrem Besuch Themenbereiche zurecht, die ihnen unproblematisch erschienen, wobei die Kinder ganz oben auf der Liste standen. Meine Freundinnen berichteten mir, was India, Harvey und Woody alles angestellt hatten, meist völlig alberne, harmlose kleine Sachen, die nur einer Mutter auffielen.
Doch ausgerechnet das war das Schlimmste, was ich über mich ergehen lassen musste. Ich lag dort und musste mir anhören, wie für die Kinder das Leben einfach weiterlief – ohne mich. Ich hasste es. Es brachte mich in Rage, daran erinnert zu werden, dass ich ihr ganzes Leben lang ihre wichtigste Bezugsperson gewesen war und jetzt nichts für sie tun konnte. Ich war weder in der Lage, sie zu knuddeln, noch mit ihnen zu reden, nicht einmal berühren konnte ich sie.
Alles, was ich wissen wollte, war, dass es ihnen gut ging, und dass sie weiterhin an einer Art Routine festhielten und ihren regelmäßigen Aktivitäten nachgingen: Fußball für Harvey, Schwimmen und Klavierstunden für Woody, Pfadfinderinnen für India.
Der einzige Weg, mit dieser Situation klarzukommen, die mich innerlich zerriss, war Flucht: Meine Augen wurden glasig, und ich versank in eine Zeit, in der ich noch nicht Mutter
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