So nicht, Europa!
Politikwissenschaft als
méthode Monnet
bekannt. Den Neofunktionalisten erschien sie als die beste Möglichkeit,einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker herzustellen. Denn einmal in Gang gesetzt, würde sich durch die
Verlagerung der Entscheidungsebene auch die Loyalität der Bürger auf das neue Zentrum hin orientieren. 104 Mit vielem haben Monnet und seine Anhänger Recht behalten. Die Integration folgte bisher zumeist der Institution (das aktuellste
Beispiel ist der neue Europäische Auswärtige Dienst), nur selten war es umgekehrt. Und jede neue Institution zog neue Lobbyisten,
NG O-Ver treter und Verbände nach Brüssel. Wuchsen die Verträge, wuchsen rund um die Place Schuman auch die Bürobauten.
Nur mit ihrer letzten Vorhersage sollten die »Monnisten« nicht Recht behalten. Der Sog nach oben schließt keineswegs die Loyalität
der Bürger mit ein. Im Gegenteil, der politische Mehrwert einer immer engeren Union wird immer stärker begründungspflichtig
– und zugleich immer weniger vermittelbar. Die Grundhaltung gegenüber der Europäischen Union hat sich in eine skeptische gewandelt;
sie findet Ausdruck in der sinkenden Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament, in den Neins zu Maastricht, Nizza und Lissabon
und in der alltäglichen Kritik an der sprichwörtlich gewordenen Brüssel-Bürokratie. Neue Verträge entfalten entgegen der
méthode Monnet
längst keinen Lockgeruch mehr auf die Zivilgesellschaft. Der letzte große Wurf, der Lissabon-Vertrag, gleicht vielmehr einem
Ball, der so weit geschossen wurde, dass ihm kaum jemand mehr hinterherlaufen möchte.
In die europäischen Führungsetagen findet diese Skepsis nach wie vor keinen Einlass. Die
méthode Monnet
hat dort zu einer paternalistischen Attitüde geführt. Man vertritt die Haltung, es sei die Institution, die politische Fortschrittlichkeit
verkörpere, also müsse diese Institution von oben nach unten wirken. Das Verfassungsprojekt Europas mag gescheitert sein,
doch das hindert die Berufseuropäer nicht daran, sich als politische Klasse zu empfinden. Sie fühlen sich als Volksvertreter,
die sich ihr Volk bloß noch erziehen müssen. Sie glauben noch immer daran, dass die EU sich auch in Zukunft verhalten wird
wie ein Wetterballon: Je höher sie steigt, desto stärker wird sie sich entfalten.
José Manuel Barroso empfängt im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes. Die Sitzecke im so genannten Protokollzimmer besteht aus drei sachlichen schwarzen Cocktailsesseln
und einer Couch. Eine Wand aus auffällig kunstvoll gestalteten, blauen Glaskacheln ziert die Stirnseite des Raumes. Barroso
begrüßt den Besucher mit offenem Lächeln und jovialem Gestus. Der Portugiese ist ein Mann mit durchaus hintergründigem Humor,
aber er zeigt ihn selten. Zu stark hält ihn seine Rolle als Chef eines von den Hauptstädten mit Argusaugen beobachteten Kollegialorgans
in Zaum.
Es ist das zweite Interview, zu dem sich Barroso innerhalb einer Woche bereit findet. Wir wollen darüber reden, ob er wirklich
daran glaubt, dass der Lissabon-Vertrag die Europäische Union demokratischer macht. Die Niederschrift der ersten Begegnung
hatte Barrosos Sprecherteam derart verändert, dass es unmöglich noch als halbwegs authentische Gesprächswiedergabe gelten
konnte. Beim zweiten Versuch lassen sie mehr vom ursprünglichen Inhalt durchgehen. Barroso verschränkt die Hände vor der Brust
und beugt sich vor. Er macht das immer so, wenn ihm ein Punkt wichtig ist.
»Ich denke, dass der Lissabon-Vertrag das demokratische Element der EU enorm stärkt, ja. Erstens dadurch, dass das Europäische
Parlament mehr Macht und Kompetenzen erhält. Und zweitens dadurch, dass die nationalen Parlamente Prüfungs- und Einspruchsmöglichkeiten
bekommen, die sie heute nicht besitzen. Sie können künftig Entscheidungen der Kommission auf ihre Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsgedanken
hin überprüfen lassen.«
[J. B.]Die nationalen Parlamente müssen dazu innerhalb einer achtwöchigen Frist mindestens ein Viertel ihrer Mitglieder dazu bewegen,
einen begründeten Einspruch gegen Vorschläge aus Brüssel einzulegen. Dies zu bewerkstelligen, ist in der Praxis völlig illusorisch.
»Vergleichen Sie die neue Prüfungs- und Einspruchsmöglichkeit mit der bisherigen Situation. Auch die schärfsten Kritiker müssen
doch, vorausgesetzt sie verfügen über ein Minimum intellektueller Ehrlichkeit, eingestehen, dass die
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