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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa!
Autoren: Jochen Bittner
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nennen. In anderen europäischen Ländern sind es die Königshäuser, NGOs oder das Militär. Für die Akzeptanz von
     Macht scheint es mindestens ebenso wichtig zu sein, dass ihre Inhaber Charakterfestigkeit, Sachkenntnis und vernünftige Urteilsfähigkeit
     beweisen, wie der Umstand, dass sie gewählt wurden.
    Wie aber wissen Politikmechaniker, wie weit sie gehen dürfen, bevor ihnen die Befähigung zum Amt abgesprochen wird? Woher
     wissen sie, welche ihrer Ideen und Entscheidungen massenverträglich sind? Volkes Stimmung ist zu wechselhaft, als dass die
     Sensoren eines Einzelnen ausreichen würde, sich ein verlässliches Lagebild zu verschaffen. Hier kommt ein besonderer Brüsseler
     Faktor ins Spiel, der die Geschäftsführerdemokratie der EU ininteressante Nähe zum modernem Management bugsiert: die Kundenbefragung.
    Die weiter oben zitierten Umfragezahlen stammen aus einer Auftragsarbeit für die Kommission. Über seine Generaldirektion Kommunikation
     lässt der Kommissionspräsident kontinuierlich die Bürger Europas befragen, wie sie mit der Arbeit der EU zufrieden sind. Seit
     1973 lässt diese Einrichtung jedes halbe Jahr den Europäern den Puls messen, anhand einer allgemein-politischen Umfrage, des
     so genannten Eurobarometers. Im Auftrag der Kommission fragen die Institute TNS und Gallup in allen 27   Mitgliedstaaten nach dem »Leben in der Europäischen Union«.
    Sie fragen die Menschen, was ihre größten Sorgen sind (die klassischen Antworten lauten Arbeitslosigkeit/Wirtschaftslage,
     Kriminalität/Terrorismus, Gesundheit/Renten). Sie fragen, ob sie »opti mistisch « über die Zukunft der Europäischen Union denken (laut Eurobarometer vom Dezember 2009 dachten das 66   Prozent). Oder ob die Menschen glauben, dass die EU dazu beitrage, sie vor den negativen Effekten der Globalisierung zu schützen
     (46   Prozent).
    Es gibt drei Arten von E U-Umfragen : einmal Umfragen über die Kommunikation, um zu sehen, wie die Union bei den Bürgern ankommt. Zum anderen Umfragen, die eine
     politische Idee testen sollen. Und schließlich Umfragen, die Einstellungen messen über Maßnahmen, die schon umgesetzt wurden.
     Sämtliche Kommissare lassen ständig Umfragen zu Einzelvorhaben erstellen, um zu erkunden, wie zufrieden die Klientel mit ihrer
     Arbeit ist. Ein Vertreter von Gallup Europe schätzt die Anzahl der Flash-Surveys, die sein Unternehmen jedes Jahr für die
     Kommission erstellt, auf 15 bis 20.   Mal will ein Kommissar wissen, wie die eigene Umweltpolitik ankommt, mal, was die Menschen über erneuerbare Energien denken,
     oder ob es Unternehmer sinnvoll finden, dass die EU ein Erasmusprogramm für Firmen auflegt. Die EU folgt gleichsam dem Motto
     »Frag dich schön.« Sie betreibt beständig Marktforschung für ihre politischen Produkte.
     
    Ist diese marktwirtschaftliche Art des Politikmachens in gewisser Weise nicht auch demokratisch – ja, vielleicht sogar präziser
     demokratisch als eine Vierjahreswahl? Eine Art Schlüssellochdemokratie, die ohne Wahlen erkundet, was den Bürger drückt, was
     er sich erhofft und was er ablehnt, ist sie nicht auch ein Modell für ein 50 0-Millionen -Bürger-Gebilde wie die Europäische Union?Die EU klopft lieber an die Türen, statt sich auf einen öffentlichen Diskurs zu verlassen, der ohnehin kaum je einsetzt.
    Liegt die historische Besonderheit dieses Europas also darin, dass es seinen Bürgern im Dschungel der Globalisierung ein Reservat
     größtmöglicher Sicherheit und Geborgenheit bietet, und zwar ganz bewusst um den Preis althergebrachter demokratischer Prinzipien?
     Ist dieses Europa eine Diktatur verantwortungsvoller Gutmenschen, die im Grunde ganz geschmeidig funktioniert? Lautet eine
     Lehre der EU, dass auch derjenige als Demokrat gelten kann, der sich zwar keinen Wahlen stellt, aber die Akzeptanz seines
     Handelns durch ständige Umfragen am Volkswillen überprüft?
     
    Die Antwort lautet nein. Schon methodisch ist die Art und Weise der europäischen Volksbefragung zweifelhaft. Umfragen sind
     immer interessengeleitet und offen für Manipulationen, die angenehme Antworten erbringen sollen. Allein schon deswegen können
     sie keinen Ersatz bieten für die demokratische Legitimation, wie sie durch Wahlen gewährt wird. Für die Erhebungen der Kommission
     gilt dies in besonderem Maße: Sie lassen auf der Antwortseite nicht den Raum für Differenzierungen, aus denen sich belastbare
     Meinungsbilder gewinnen ließen. Die Gefahr sind
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