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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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ist. Stattdessen
     wird der Beamte mit der Lupe nach noch unregulierten Lücken im System suchen.
    Ein gewisses Unbehagen gegenüber der eigenen Arbeit ist in vielen Gesprächen mit Kommissionsbeamten herauszuhören. Doch noch
     unbehaglicher wird ihnen bei dem Gedanken, solche Zweifel, gar unter Namensnennung, an die Öffentlichkeit zu bringen. Die
     Hand, die einen füttert, beißt man ungern. Und die europäischen Institutionen füttern gut. Wer frisch von der Uni eine Stelle
     bei einer Kommission antritt, erhält ein Startgehalt von gut 4200   Euro, die mächtigen Generaldirektoren verdienen knapp 18.000   Euro im Monat. Zusammen mit den beträchtlichen Steuervergünstigungen, Auslands-, Ausbildungs- und Kinderzuschlägen(pro Kind 350   Euro) sowie üppigen Freibeträgen für Reisen, nehmen sich die Endsummen noch himmlischer aus. Unterm Strich verdient ein europäischer
     Beamter in einer vergleichbaren Stellung oftmals doppelt so viel wie sein entsprechender Kollege in der nationalen Hierarchie.
     Hinzu kommt, dass viele belgische Banken und Firmen E U-Beamten (genauso wie Journalisten) Rabatte auf ihre Produkte von bis zu 30   Prozent anbieten. Für E U-Diplomaten entfällt zudem bei allen Einkäufen über 300   Euro die Mehrwertsteuer. Vor allem beim Autokauf machen viele Eurokraten von dieser Verlockung Gebrauch. Kein Wunder, dass
     manch ein Beamter sich auch bei kritischer Sicht auf sein tägliches Wirken zweimal überlegt, ob er an diesem privilegierten
     Lebensstandard rütteln möchte. Ob mit der fürstlichen Entlohnung der E U-Diener nun gezielt Loyalität erzeugt werden soll oder nicht – sie entsteht oftmals ganz faktisch als Nebeneffekt des Gehaltsschecks.
    Für Europas Normenfabrik ist durch den Lissabon-Vertrag eine neue Ära angebrochen. Bildlich gesprochen, hat sie zusätzliche
     Werkshallen bekommen. Große Bereiche der Innen- und Rechtspolitik zum Beispiel wurden von der nationalen auf die supranationale
     Ebene verlagert. Die Skepsis vieler Bürger im Hinblick auf die Art und Weise, wie in der EU Recht gesetzt wird, hängt mit
     dem Eindruck von einer »Brüsseler Blase« zusammen. Dieses instinktive Gefühl trügt nicht. Zwar wird auch kaum ein Bundesbürger
     verfolgen können geschweige denn wollen, wie im Berliner Hauptstadtbetrieb ein Gesetz entsteht. Doch der Lauf der Gesetzgebung
     in Brüssel weist Eigenarten auf, die ihn von nationaler Paragrafensetzung grundlegend unterscheiden.
    Ein durchschnittliches E U-Gesetz kann auf verschiedenen Wegen entstehen. Die Staatschefs der EU können der Kommission einen Auftrag für eine Richtlinie erteilen.
     Oder die Kommission hört Experten an und gelangt zur Ansicht, eine neue Regel müsse her. Oder ein Referent irgendwo in einem
     der zahllosen Gebäude der E U-Kommission in Brüssel entwickelt spontan eine Idee. Zum Beispiel schlägt in der Generaldirektion »Unternehmen und Industrie« ein Beamter
     vor, in den 27   Mitgliedsländern ab 2012 nur noch rollwiderstandsarme Autoreifen zum Verkauf zuzulassen. Durch diese reibungsarmen Pneus,
     so seine Rechnung, ließe sich Benzin einsparen. Das hülfe der Umwelt, den Ressourcen und dem Verbraucher. Und da Autoreifen
     europaweit gehandelt werden,eine einzelstaatliche Regelung also wenig bringen würde, ist das Ganze eine Materie für die EU.
    Ein paar Straßen entfernt, in der Rue Jacques de Lalaing, liegt die deutsche E U-Vertretung . Von der glatten, dunklen Außenfassade ragt in spitzem Winkel die Bundesflagge übers Kopfsteinpflaster der Botschaftengasse.
     Die schmale Eingangsfront lässt weder die architektonische Ausdehnung des Gebäudes nach hinten noch seine Bedeutsamkeit nach
     unten, in Richtung Nationalstaat, erkennen. Etwa 170   Mitarbeiter residieren in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik, kurz StäV genannt. Zu den Diplomaten vom Auswärtigen
     Amt gesellen sich Experten aller Berliner Politikressorts, die wegen ihrer speziellen Sachkenntnisse nach Brüssel entsandt
     worden sind. »Wir sind hier so etwas wie eine kleine Bundesregierung«, sagt ein Mitarbeiter. »Sie finden bei uns jedes Ministerium
     widergespiegelt.«
    In manchen Büros stapeln sich Akten und Faltordner bis auf Kinnhöhe. Die Garage des Hauses bleibt jeden Tag bis 22   Uhr geöffnet. »Dafür«, sagt ein Beamter mit hochgezogenen Augenbrauen, »gibt es natürlich einen Grund.« Auf vielen Gesichtern,
     die einem auf den Gängen der Vertretung entgegenkommen, steht Stress. Die Vielfalt von

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