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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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Brüssel war bis zum Sommer 2010   Edmund Duckwitz, ein umgänglicher und humorvoller Hanseat, der zuvor unter anderem als Botschafter in Santo Domingo, Caracas,
     Den Haag und Deutschlands Vertreter bei der Nato diente. Ist die Weisung aus Berlin erteilt, klemmt Duckwitz oder ein anderer
     zuständiger Vertreter der StäV sich die Aktenordner unter den Arm und marschiert den knappen Kilometer hinüber ins Justus-Lipsius-Gebäude.
     Dort treffen er oder sie sich mit den übrigen 26   Ländervertretern, die ebenfalls ihre Positionen im Gepäck haben, in der jeweils zuständigen Ratsarbeitsgruppe.
    Schon an diesem Punkt ist das Gesetzgebungsverfahren der EU stark exekutivlastig. Schließlich gibt es den Grundsatz der Gewaltenteilung:
     Eigentlich sollte es die Legislative sein, also der Bundestag, der Gesetze erlässt. In Brüssel tut es
de facto
die Bundesregierung durch ihre Vertreter. Wenn Botschafter Duckwitz oder einer seiner Kollegen durch das Portal des Rates
     schreitet, beginnt eine zweite Stufe der demokratischen Entkopplung. Nennen wir sie die Verdiplomatisierung der Gesetzgebung.
     
    Wer durch die Gänge des Justus-Lipsius-Gebäudes streift, dem erscheint es unglaublich, dass der Bau erst 1995 fertig gestellt
     wurde. Die kastenartige, verschachtelte Struktur, die niedrigen Decken und das fehlende Tageslicht waren, glaubte man eigentlich,
     typische Architektursünden der 70er- und 80er-Jahre. Ein beklemmendes Gefühl steigt auf, sobald man in die Tiefen des europäischen
     Staatenpools vordringt. Bereits am Tage seiner Eröffnung war das Gebäude zu klein für die Abgesandten, die es beherbergen
     sollte. Geplant war es für 15   E U-Mitgliedstaaten . Mittlerweile hat die EU27   Clubmitglieder. Der Komplex umfasst 215.000   Quadratmeter Arbeitsfläche, statistisch verfügt also jedes Mitgliedsland über knapp 8000   Quadratmeter, gut anderthalb Fußballfelder. Doch in Wirklichkeit geht es eng zu. Alles im europäischen Staaten-Hauptquartier
     wirkt komprimiert und erstickend. Immer wieder klagen Diplomaten über die »wahnsinnigen Platzprobleme«.
    Das Vereinsheim Europas verwirrt zudem mit einer eigenen Grammatik. Sein Aufbau ist ebenso rästelhaft wie seine Sprachcodes.
     Aus unerfindlichen Gründen werden die Stockwerke in Zehnerschritten gezählt. Die Geschosse, die sich unter der Erde befinden,
     tragen die 0 vorne. 03, 02, 01, 00, 10, 20   … zählen die roten Digitalanzeigen in den Aufzügen. Es gibt auch »Zwischen etagen «, mit der Nummer 35 etwa. Warum einfach, scheint sich der Architekt gedacht zu haben, wenn’s auch kompliziert geht? Ebene
     50 ist die Etage der Auserwählten. Hier kommen während der Europäischen Gipfeltreffen nur die Staatschefs mit ihren engsten
     Begleitern hinauf. Es sind diese Flure, auf denen über die Politik für einen ganzen Kontinent bestimmt wird. Doch für die
     Öffentlichkeit sind sie tabu. Kein Fernsehteam, kein Reporter darf hier herumlaufen, nur kurze Aufnahmen durch ausgesuchte
     Pool-Kameraleute sind vor Beginn der Sitzungen der Chefs erlaubt.
    Durchsichtiger gestaltet sind seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages die Arbeitssitzungen der europäischen Minister. Wenn
     sie in der fünften Etage des Justus-Lipsius-Gebäudes zusammenkommen, können die Europäer das Geschehen per Internet-Livestream
     mitverfolgen. Der zentrale Sitzungssaal ist so groß, dass Gesichter, die an einem Ende des Tischovals sitzen, vom anderen
     Ende aus nur schwer zu erkennen sind. Deswegen stehen Flachbildschirme auf den Tischen verteilt. Meldet sich ein Staatenvertreter
     zu Wort, indem er das Plastikschild mit seinem Ländernamen senkrecht vor sich stellt, erwacht eine der zahlreichen Kameras,
     die von der Decke hängen, zu Leben. Sie schwenkt auf den Minister und zoomt ihn heran. Sein Gesicht erscheint auf den Bildschirmen,
     und in den Kopfhörerkanälen schaltet sich der passende Dolmetscher ein. Die Abläufe der Sitzungen, die unter
http://video.consilium.europa.eu
verfolgt werden können, sind etwas für Feinschmecker.
    Umweltminister Norbert Röttgen liest zum Beispiel eine Stellungnahme zum gemeinschaftlichen Zulassungsverfahren vonBiozid-Produkten ab. »Wir glauben, dass man das Verfahren noch etwas weniger bürokratisch gestalten könnte«, sagt er. Als
     er erläutern möchte, wie genau dies geschehen solle, hat er Schwierigkeiten, das vorbereitete Manuskript zu verstehen, von
     dem er abliest. Eine Vereinfachung, fährt der Minister stockend fort,

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