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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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Themen, die in Brüssel bearbeitet werden,
     dürfte in der Verwaltungswelt einzigartig sein. Nebenbei sind die Diplomaten in der Rue Jacques de Lalaing auch damit betraut,
     die regelmäßigen Gipfeltreffen der europäischen Staatschefs vorzubereiten. Alle drei Monate, bei besonderen Anlässen auch
     öfter, kommen die Vertreter von fast 500   Millionen Menschen zusammen. Diese Treffen mit ihren oftmals beeindruckend vollgestopften Tagesordnungen bilden allerdings
     bloß die Spitze des Entscheidungsprozesses innerhalb der EU.
    In Brüssel Diplomat zu sein, ist nicht wie Diplomat sein in Washington, Paris oder Peking. In der E U-Hauptstadt sind Diplomaten immer auch Mit-Gesetzgeber. Dies mag zur Sachlichkeit der Rechtssetzung für den Kontinent beitragen. Der
     Transparenz hingegen ist es nicht förderlich. Nur zögerlich lassen sich E U-Diplomaten Einzelheiten über die Verhandlungen mit Kollegen aus anderen Ländern entlocken. Was bei der Debatte über ein neues Gesetz
     in einer parlamentarischen Demokratie ganz selbstverständlich zur politischen Kultur gehört, nämlich die offensive Benennung
     und Betonung von Widersprüchen und Meinungsverschiedenheiten der beteiligten Fraktionen, verstößt im BrüsselerKosmos gegen das diplomatische Selbstverständnis. Das Gleiche gilt für die Mitarbeiter der Bundesministerien, die aufgrund
     ihrer Fachkenntnisse an die E U-Vertretung geschickt worden sind. Sie kennen sich genauestens aus mit Milchpreisen, mit der Privatisierung von Energienetzen, mit Wärmeeffizienzkriterien
     für Wohnhäuser – oder eben mit den Rolleigenschaften von Autoreifen, und über all dies bestimmen sie im Zusammenspiel mit
     ihren europäischen Counterparts entscheidend mit. Doch öffentlich in Erscheinung treten möchte keiner von ihnen. Der Brüsseler
     Gentleman,
comme il faut
, normiert und schweigt.
    Sobald einer der Beamten in der Ständigen Vertretung erfährt, dass die Kommission eine neue Regelung auf den Weg bringen will,
     verfasst er eine so genannte Frühwarnung Richtung Berlin. Der Hauptstadt wird signalisiert: »Achtung, da kommt etwas, bei
     dem wir uns aktiv einbringen müssen!« Und die Brüsseler fragen: »Wie sieht die deutsche Position dazu aus?« Die Mitarbeiter
     der Ständigen Vertretung handeln nur innerhalb des Rahmens, der ihnen von Berlin vorgegeben wird. Sie benötigen Weisungen,
     die zuvor in der Bundesregierung unter den Ministerien abgestimmt worden sind. Es gibt also keine E U-Politik des Auswärtigen Amtes oder des Wirtschaftsministeriums oder des Innenministeriums. Es gibt nur eine deutsche E U-Politik . Welche Meinung, fragen die Brüsseler im konkreten Fall, hat die Bundesregierung zu rollwiderstandsarmen Reifen, bitte? Bis
     dato hatte sie wahrscheinlich gar keine.
    Der Abstimmungsprozess zwischen StäV und Berliner Ministerien ist, so schildern es Beteiligte, harte Arbeit. Laut groben internen
     Schätzungen werden 50   Prozent des elektronischen Verkehrs des Auswärtigen Amtes mit seinen 225 deutschen Auslandsbotschaften weltweit allein durch
     die Kommunikation Brüssel   – Berlin   / Berlin   – Brüssel verursacht. Denn mit jeder Anfrage zu einer Gesetzesinitiative müssen sich mehrere Ministerien beschäftigen. Die
     am häufigsten angefragten Ressorts sind das Auswärtige Amt, das Wirtschafts-, das Finanz-, das Landwirtschafts-, das Umwelt-,
     das Innen- und das Justizministerium. Der Wunsch, in Brüssel geschlossen aufzutreten, lässt die institutionalisierten Gegensätze
     zwischen beispielsweise Umwelt- und Wirtschaftsministerium nicht automatisch verschwinden. Das eine urteilt
in dubio pro Natur
, das andere
in dubio pro Industrie
. »Das hat nichts mit den Parteien der Ministern zu tun«, sagt ein Brüsseler Koordinator,»das liegt einfach an der unterschiedlichen Wahrnehmung der Sachverhalte durch die jeweiligen Fachbrillen.« In solchen Fällen
     muss dann, im Interesse Europas, Versöhnungsarbeit geleistet werden.
    Die Entscheidungshierarchie im Brüsseler Rat und in den Verwaltungen der Mitgliedstaaten ist aufgebaut wie eine Pyramide.
     Unten werden die technischen, eher unstrittigen Fragen gelöst. Je heikler die Materie, desto hochrangiger werden die Verantwortlichen.
     Politisch umstrittene Regelungsideen wandern auf die Ebene der E U-Botschafter . In ihren Zusammenkünften wird über das, was unterhalb des Levels von Ministern und Staatschefs entschieden werden kann,
     entschieden. Deutschlands mächtigster Vertreter in

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