So nicht, Europa!
eine neue Struktur. Es gibt nicht nur die rotierenden Präsidentschaften, sondern auch noch einen E U-Rats präsidenten und einen Kommissionspräsidenten. Wir versuchen uns da durchzuarbeiten.« Die Frage, wann es Treffen gäbe, wo sie stattfänden
und wer der Gastgeber sei, »wird im Lichte der neuen Architektur gerade neu bewertet.«
Ganz abgesehen vom peinlichen Kompetenzgerangel in Europa – wer könnte dem U S-Präsidenten seine mangelnde Reiselust in die Alte Welt verübeln? Europa ist der amerikanischen Regierung nicht mehr halb so wichtig,
wie es glaubt. Warum auch? Die wahren Chancen und Risiken der Weltpolitik warten im 21. Jahrhundert anderswo. In China zum Beispiel, in Afghanistan, in Indien oder Lateinamerika. Statt symbolhafte E U-Gipfel zu besuchen, bei denen nicht viel mehr besprochen wird als die Tatsache, dass es eigentlich nichts zu besprechen gibt, hat
ein Weltmachtführer weiß Gott Besseres zu tun. »Das Weiße Haus glaubt, dass E U-Gipfel verschwendete Zeit sind«, sagt Stephen Szabo, der Direktor der Transatlantic Academy in Washington. »Die Absage war ein klares
Signal, dass die Vereinigten Staaten genug davon haben, sich mit Eurokraten und einem führungslosen Europa zu beschäftigen.
Europa mag jetzt einen Telefonanschluss in Brüssel haben. Aber er wird von einem Pförtner beantwortet.« Die schmerzhafteste
Erkenntnis über ihre Rolle in der Welt scheint der Lissabon-EU auf Dauer noch bevorzustehen: Stell dir vor, Europa spricht
mit einer Stimme und keiner hört zu.
Enttäuschung breitet sich im Jahr eins nach Lissabon auch nach Innen aus. Allen Ansprüchen nach mehr Effizienz zum Trotz hat
der Lissabon-Vertrag unterhalb der repräsentativen Etage des Rates die rotierenden Präsidentschaften bestehen lassen. Sie
laufen im selben Rhythmus weiter wie bisher. Damit bleibt die Versuchung für Einzelstaaten, ihre ganz persönlichen Pflöcke
auch im E U-Normenapparat einrammen zu wollen, bestehen. Es können weiterhin Monate oder gar Jahre vergehen, bis ein E U-Gesetz abgesegnet ist.
Den Rekord hält die Richtlinie zu europäischen Aktiengesellschaften. 31 Jahre (von 1970 bis 2001) verhandelten die Mitgliedstaaten über sie. 17 Jahre waren es bei der Betriebsrats-Richtlinie. 11 Jahre bei einer Richtlinie zu Definition von Mineralwasser. Die Roaming-Verordnung hingegen, die Höchstpreise für Mobiltelefongespräche
zwischen E U-Ländern festlegt, lief innerhalb von dreieinhalb Monaten durch die Ratskammern. Im Durchschnitt, schätzen Beamte, müsse man zweieinhalb
Jahre veranschlagen, bis aus einem Vorschlag der Kommission ein verbindliches Gesetzblatt wird. Das ist eigentlich keine schlechte
Geschwindigkeit für einen Gesetzgebungsprozess, der nicht nur 27 einzelstaatliche Interessen versöhnen muss, sondern der auch
noch Gegenwind aus dem Europäischen Parlament bekommen kann.
Eine wichtige Aufgabe der Ratsvorsitzenden ist es, möglichst früh Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die das Europaparlament
in den Gesetzgebungsweg stellen könnte. Parallel zu den Ratsarbeitsgruppen sondieren die Diplomaten deshalb den jeweiligen
Richtlinienentwurf mit dem zuständigen »Berichterstatter« im Parlament. Dieser Abgeordnete ist zuständig dafür, seine Kollegen
zu unterrichten und die Meinungen der Fraktionen einzuholen. Da die Berichterstatter die Ansichten ihrer Kollegen natürlich
auch prägen und die Inhalte einer Richtlinie verändern können, sind sie mächtige Leute. Verspüren die Ratsvertreter Anzeichen
von Widerstand aus dem Parlament, werden sie versuchen, ihren Kurs zu ändern – oder die Berichterstatter zu überzeugen. Schließlich
wollen sie nicht riskieren, dass die ganze jahrelange Koordinierung zunichte gemacht wird. »Das Parlament kann alles verhageln«,
fasst ein Diplomat die Macht der Völkervertretung zusammen. Ein Parlamentarier, der genau diese Arbeit getan hat, stellt selbstbewusst
fest: »Ein Berichterstatter im Europaparlament kann mehr in Europa bewegen als manch ein Regierungsmitglied.«
Die Stimmung bei allen Beteiligten ist freilich vom Willen zum Konsens bestimmt. »Wir wollen ja alle, dass die Dinge vorwärtskommen«,
sagt ein Mitarbeiter im Rat, »deswegen versuchen wir Lösungen zu finden, mit denen alle leben können.« Denn zeigt sich Europa
nicht in der Lage, die Dinge zu regeln, nehmen die Nationalstaaten das Heft in die Hand. Das will niemand in Brüssel. »Disziplinierende
Wirkung«, sagt ein
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