So nicht, Europa!
Verhandlungen letztlich in eine Sackgasse führen. Der
acquis communautaire
umfasst 35 Kapitel. Mitte 2010 waren 13 mit der Türkei eröffnet, zuletzt das über Lebensmittelsicherheit. Vorläufiggeschlossen wurde bisher nur das Kapitel über Wissenschaft und Forschung. Um einen freundlichen Schein zu wahren, versucht
jede Ratspräsidentschaft wenigstens ein neues Kapitel zu eröffnen. Doch in den wesentlichen Bereichen, vor allem dem Binnenmarkt,
bleibt der Kandidat Türkei blockiert. 6 Ein Hauptgrund für den Abbruch der Annährung war der Zypernkonflikt. Die Türkei erkennt die Republik Zypern nicht an, beansprucht
den Norden der Insel für sich und weigert sich, dem E U-Mitglied Zypern seine Häfen und Flughäfen zu öffnen.
Nicht nur wegen der ernüchternden Romanze mit Ankara ist die Dame Europa zögerlich geworden gegenüber neuen Liebhabern. 1981
wurde die ehemalige Militärdiktatur Griechenland Vollmitglied der Europäischen Union. Zwanzig Jahre später, 2001, gelang Athen
der Sprung in die Euro-Währungsgruppe. Um mit den notwendigen Konvergenzkriterien glänzen zu können, hatte die Regierung,
wie sich später herausstellte, die Daten geschönt. »Das war Betrug«, sagt ein ranghoher deutscher Politiker nach einigen Jahren
Abstand, »es war ein Verbrechen an der Währung.« Seither flogen immer wieder Tricks und Täuschungen bei den Haushaltsbilanzen
auf. Fast zehn Jahre schaffte es Griechenlands Regierungen nicht, die Stabilitätskriterien der Gemeinschaftswährung zu erfüllen.
Die hellenische Volkswirtschaft lebte ungeniert auf Kosten der hohen internationalen Kreditwürdigkeit des Euro. Im Winter
2009 / 10 schließlich brach der griechische Haushalt unter einem 1 2-prozentigen Defizit zusammen. Die E U-Kommission zwang den Griechen daraufhin durchgreifende Reformen auf. Unter anderen soll der aufgeblähte Beamtenapparat des Landes entschlackt
und Steuerzahlen als erste Bürgerpflicht im Bewusstsein verankert werden. Mit den Aufsichtsregeln reizte die Kommission alle
Möglichkeiten aus, die die E U-Verträge bieten. Griechenland ist heute wirtschaftspolitisch de facto ein Brüsseler Protektorat.
Im Rückblick erscheint die E U-Aufnahme des Landes, jedenfalls was die Hoffnungen in die Leistungskraft seiner Volkswirtschaft betrifft, als ein Sieg der Verklärung
über die Gesetze der Ökonomie. Merke: Nicht jeder Staat bringt eben die Ehrlichkeit eines Groucho Marx auf, der einmal bekannte:
»Ich würde niemals einem Club beitreten, der jemanden wie mich als Mitglied aufnähme.«
Auch Bulgarien und Rumänien, die 2007 der EU beitraten, werden von der Kommission immer wieder wegen der mangelnden Umsetzung
zugesagter Reformen gerügt. Für beide Länder scheint der E U-Beitritt weniger ein Ansporn zur Modernisierung ihrer Staatsapparate gewesen zu sein als schlicht ein gutes Geschäft. Beiden Ländern
sollen aus dem Brüsseler Haushalt bis 2013 knapp 27 Milliarden Euro für Strukturförderung sowie 10,6 Milliarden für regionale Entwicklung zufließen. Die erwartbare Gegenleistung bestünde darin, unfähige Behörden umzukrempeln
und eine Rechtsprechung aufzubauen, die den Namen verdient.
Doch weder Sofia noch Bukarest erfüllen bisher die in sie gesetzten Hoffnungen. »Korruption in den höchsten Kreisen und organisierte
Kriminalität verschlimmern die generelle Schwäche von Verwaltung und Justiz«, hieß es im Sommer 2008 in einem Prüfbericht
der E U-Kommission zu Bulgarien. Die nationalen Behörden kontrollierten kaum, ob die Fördergelder tatsächlich für die vorgesehenen Projekte
verwendet würden. Nachdem sich Berichte häuften, wonach Millionen Euro aus den Brüsseler Fonds in privaten Taschen landeten,
griff die EU zur Ultima Ratio. Die Kommission stoppte die Auszahlung von 500 Millionen Euro Strukturhilfe. Einen Anreiz für größere Integritätsanstrengungen setzte diese Sanktion nicht.
»Das im Kommissionsbericht vom Juli 2008 verzeichnete Fortschrittstempo wurde nicht beibehalten«, stellte die Kommission im
Februar 2009 auch zu Rumänien fest. »Zwar gab es einige positive Signale bei der Justizreform, Ergebnisse sind allerdings
schwer zu erkennen.« Der Vorsitzende des Europaausschusses des Deutschen Bundestages, Gunther Krichbaum, kam zu dem Schluss,
dass Rumänien nicht mehr die Kriterien erfülle, die an einen E U-Beitrittskandidaten gestellt würden. Seitdem das Land zur EU gehöre, habe ein »systematisches
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