So nicht, Europa!
später gründete Kaiser Franz Joseph I. die nach ihm benannte deutsche Universität der Stadt.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Tschernowitz mit dem Vertrag von St. Germain Rumänien eingegliedert. 1940 besetzten die Sowjets
die Stadt, und nach einem nochmaligen rumänischen Herrschaftsintermezzo von 1941 bis 1944 wurde Tschernowitz schließlich Teil
der Sowjetunion – bis sich die Ukraine 1991, als die Kremlherrschaft fiel, unabhängig erklärte. Das viersprachige Tschernowitz
war eine Stadt der Musen und Heimat außerordentlicher Künstler, Dichter und Philosophen. Paul Celan, Wilhelm Reich, Gregor
von Rezzori und Rose Ausländer wurden dort geboren – und mit ihnen ein wichtiger Teil deutscher Kultur. »Warum schreibe ich?«,
fragt Rose Ausländer einmal. »Vielleicht weil ichin Tschernowitz zur Welt kam, weil die Welt in Tschernowitz zu mir kam.«
Filipchuk, Spross der vielleicht europäischsten Stadt außerhalb der EU, ist verbittert über die Langsamkeit, mit der die Welt
zurückkommt in seine Heimat. Er wird plötzlich sehr deutlich, hebt den Zeigefinger. »Macht keinen Fehler mit uns!«, warnt
er. Warum, fragt er, wird es seinen ukrainischen Landsleuten zum Beispiel immer noch so unsagbar schwer gemacht, Visa für
die EU zu bekommen? Warum ist es einfacher, eine Einreisegenehmigung für Amerika zu bekommen als für das Nachbarland Polen?
Weil Europa der verlorenen Tochter nicht traut, deshalb.
Rund um die Kiewer Metrostation Palats Sportu rattern die Baumaschinen. In dem großen Fußballstadion, das gerade in neuen
Glanz versetzt wird, sollen 2012 die Spiele der Europameisterschaften ausgetragen werden. Noch erweckt die chaotische Riesenbaustelle
allerdings nicht den Eindruck, dass das Ziel bis dahin erreicht werden wird. Und doch, dem Mann an der Bahnsteigkante unten
in der U-Bahnstation ist ein ungebrochener Stolz anzumerken. Er spricht zwar kein Englisch, aber als ihm klar wird, wo der Besucher aus Deutschland
hin möchte, lächelt er und stellt seine Aktentasche auf dem Boden ab. Jetzt kann er besser mit den Fingern auf dem Kiewer
Stadtplan hin- und herfahren. Am besten, macht er klar, die nächste U-Bahn auf der anderen Bahnsteigseite nehmen, nach zwei Stationen umsteigen, bei der nächsten raus – und da ist er,
Maidan Nezalezhnosti
. »Independence Square, yes!«, sagt er strahlend, während sein eigener Zug davonfährt.
Mit großer Wahrscheinlichkeit gehörte der Mann zu den Tausenden von Ukrainern, die im eisigen Winter 2004 so lange auf dem
Zentralplatz der Hauptstadt campierten, bis die Regierung beidrehte und einer Wiederholung der Präsidentenwahl zustimmte.
Dem vermeintlichen Sieger der Wahl, dem moskautreuen Viktor Janukowitsch, warfen die Menschen dreiste Wahlfälschung vor. Auch
die EU erkannte seinen Sieg nicht an. Ihr wahrer Präsident, machten die Orangen Revolutionäre der Welt klar, heiße Viktor
Juschtschenko, ein Beinah-Märtyrer der Demokratie. Im Gesicht noch gezeichnet von einer Dioxinvergiftung, die ihm mutmaßlich
ein russischer Hintermann der Regierung beigebracht hatte, stellte sich der westlich-orientierte Juschtschenko so lange dem
offiziellen Wahlergebnis entgegen, bis eine neuerliche Stichwahlzwischen ihm und Janukowitsch angesetzt wurde. Beim zweiten Durchgang errangen er und seine politische Verbündete, die ikonenhafte
Julia Timoschenko, 52 Prozent der Stimmen. Nach seiner Vereidigung stellte der neue Präsident fest: »Wir haben Europa nicht nur in geografischer
Hinsicht gewählt, sondern auch wegen seiner geistigen und moralischen Werte.«
Tatsächlich ist zu fragen, ob es letztlich nicht dieses Moment ist, die Revolution von unten, die Unterwerfung der Herrschenden
unter die Macht des Volkes, aufgrund dessen sich spätestens seit 1989 jeder Staat zwischen Ostberlin und Moskau mit Recht
als europäisch definieren darf. Polen lieferte diesen Beweis schon mit der Solidarnocz-Bewegung ab 1980, und auch in anderen
osteuropäischen Ländern konnten frühere Erhebungen nur mit Gewalt niedergedrückt werden. In Ungarn war es der Arbeiteraufstand
von Budapest 1956, in der Tschechoslowakei der Prager Frühling von 1968. Wenn diese These vom Machtdruck von unten stimmt, ist es dann nicht genau dieser Unterschied, der das Ende des heutigen Europa
an der Grenze zu Russland verorten muss? Russland erscheint deshalb so anders, so politisch unterentwickelt, weil es die Chance
versäumt hat, nach dem Ende der
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