So nicht, Europa!
Rollback« eingesetzt. Das Vertrauen, das die EU
in den Reformprozess gelegt habe, sei »krass enttäuscht« worden. 7
Mit der Ukraine würde sich die EU ein Problemkind noch einmal ganz anderer Dimension ans Bein binden. Das 4 6-Millionen -Einwohner-Land stand 2008 auf dem Bestechlichkeitsindex von Transparency International auf Platz 118, noch hinter Mosambik,
der Mongolei, Burkina Faso und Ruanda. Ein Universitätsdiplom, heißt es im Sommer 2008 in Kiew, sei für etwa 500 Dollar zu haben. Die Befreiung vom Militärdienst koste ungefähr das Dreifache.»Auch wenn im Lande immer wieder nach externen Gründen für die außenpolitischen Probleme gesucht wird, steht die Ukraine sich
in diesen Fragen derzeit klar selbst im Weg«, glaubt der Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew, Nico Lange.
Aller leutseligen Versicherungen zum Trotz gehe es in der Bekämpfung der Korruption kaum voran. Und doch, darf man der Ukraine
und anderen ehemaligen Untertanen des Sowjetreiches ihre historische Verortung in Europa absprechen? Die langfristig entscheidende
Frage lautet schließlich, ob sie bloß Nachbarn Europas sind – oder europäische Nachbarn.
Zur Frage, wo Europa endet, gab es schon immer unterschiedliche Theorien. Die einen orientieren sich an den Ausdehnungen der
Reiche Roms und Napoleons, die anderen an der Verbreitung gemeinsamer Literatur, Musik und Kunst. Wieder andere, die die Grenze
am Ural sehen, an Gesteinsschichten. Die politische maßgebliche Definition legten die Staatschefs der EU im Sommer 1993 fest.
Bei einem Treffen in Kopenhagen formulierten sie die grundlegenden Bedingungen, die jeder Staat erfüllen müsse, der um Zugang
zum europäischen Club nachsuche. Die so genannten »Kopenhagener Kriterien« lauten:
Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische
und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht
haben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften
innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, dass die einzelnen Beitrittskandidaten die aus
einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts-
und Währungsunion zu eigen machen können.
Neben diesen politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Kriterien formuliert der E U-Vertrag unauffällig eine weitere Bedingung. »Jeder
europäische
Staat«, heißt es in Artikel 49 (Hervorhebung JB), »der die (…) genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt,
kann beantragen, Mitglied der Union zu werden.«Der Anwärter muss also auch eine geografische Qualität besitzen. Er muss, so eine mögliche Lesart des Artikels, zum europäischen
Kulturraum gehören. Wie immer sich dieser Raum definieren lassen mag, einem Argument aus dem Osten werden sich die Kerneuropäer
kaum verschließen können. Wenn schon die Türkei ins Aufnahmeprogramm darf, dann, so sagen Ukrainer und Kaukasier, müsse das
erst recht für ihre Länder gelten. Vor allem die Ukraine, so empfinden es dort viele Menschen, war in den vergangenen Jahrzehnten
zwangsweise abgeschnitten von der europäischen Geschichte. Dann, in einer mutigen Rebellion, habe sich das Volk den Anschluss
an seinen ursprünglichen Zivilisationsraum zurückerkämpft.
Vasyl Filipchuk arbeitet als Abgesandter an der ukrainischen Mission in Brüssel. Er begrüßt den Besucher mit einem leicht
verstaubten, aber mühelosen Deutsch. »Meine Großmutter sprach es als Muttersprache«, erzählt er. »Sie hat mir als Kind immer
deutsche Märchen vorgelesen. Welche, weiß ich aber nicht mehr.« Filipchuk stammt aus Tschernowitz. Die Stadt ist ein anschauliches
Beispiel dafür, wie hin- und hergerissen die Ukraine seit jeher zwischen europäischen und eurasischen Machtsphären war. Tschernowitz
lag schon immer an der Grenze mehrerer Imperien. Im Mittelalter war es Teil des mächtigen Fürstentums Moldau. Im 16. Jahrhundert fiel die Stadt, nach mehreren Anstürmen türkischer Truppen, unter das Vasallentum des Osmanischen Reiches. Am
Reibepunkt der Großmächte der Osmanen, Österreich und Russland gelegen, kam Tschernowitz 1775 unter österreichische Herrschaft.
Hundert Jahre
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