So nicht, Europa!
russische E U-Botschafter Wladimir Tschisow noch während der Kämpfe in Georgien fest, »wir leben schließlich in einer vernetzten, globalen Welt. Ich
sehe nicht, dass heute noch unversöhnliche Ideologien aufeinanderprallen würden.« Unversöhnliche ökonomische Systemfragen
sind es sicher nicht mehr, die Europa und Russland trennen. Der Kapitalismus hat sich in Russland lediglich in einer besonders
raubtierhaften Ausprägung breitgemacht. Aber eine gemeinsame politische
Weltsicht
fehlen Europa und Russland wie eh und jeh.
Die Georgienkrise offenbarte einen außenpolitischen Charakter Russlands, dessen Härte und Unversöhnlichkeit das Zeug für einen
Zusammenprall der Kulturen zu haben scheint. Während es der EU darum geht, Grenzen aufzulösen und aufgrund von Regelnzu handeln, hat Russland demonstriert, dass es unilateral neue Grenzen zieht und unverhohlen einer Machtpolitik im Stile des
19. und 20. Jahrhunderts frönt. Dazu zählte nicht nur die massive und unverhältnismäßige militärische Antwort auf die Provokation und
den Angriff des georgischen Präsidenten Saakaschwili auf Südossetien, sondern auch die würdelose Rhetorik russischer Politiker.
Wladimir Putin soll Sarkozy nach Auskunft französischer Diplomaten gesagt haben, er erwäge, Saakaschwili »an seinen Eiern
aufzuhängen«. Der russische Nato-Botschafter Dimitri Rogosin verglich ihn mit Adolf Hitler und Saddam Hussein.
Die historische Marke, die der Sommerkrieg 2008 setzte, war die des Endes der Illusionen gegenüber Russland. Die friedliebende
Wohngemeinschaft EU, zeigte sich, hat es nicht mit einem reifer werdenden Partner, sondern mit einem Rowdy im Nachbarhaus
zu tun. Noch tiefer geriet der Schock über den offenbar fischkalten Imperialisten Wladimir Putin, als er seinen Nato-Botschafter
Rogosin in der ›International Herald Tribune‹ eine regelrechte Blut- und Bodenideologie als Staatsraison ausbreiten ließ.
In dem Gastbeitrag vom 18. August 2008 argumentierte Rogosin, die russische Föderation habe in Südossetien lediglich ihr Recht auf Selbstverteidigung
gemäß Artikel 51 der U N-Charta wahrgenommen. Der Schlüsselsatz des Textes lautete: »Was die Verteidigung von Bürgern außerhalb des Landes betrifft, so wird
die Anwendung von Gewalt, um eigene Landsleute zu verteidigen, traditionell als eine Form der Selbstverteidigung betrachtet.« 55
Wenn diese Annahme tatsächlich russische Doktrin ist, dann ist die Denkart seiner Führung mit westlichen Überzeugungen von
einem globalen Miteinander schwerlich vereinbar. Das Völkerrecht kennt jenseits der punktuellen Nothilfe kein Recht auf extraterritoriale
Verteidigung eigener Staatsangehöriger. Die territoriale Integrität von Staaten gehört seit dem Westfälischen Frieden von
1648 vielmehr zu den Kerngrundsätzen der internationalen Friedensordnung. Der Westen wich zwar davon ab, als er im Jugoslawienkrieg
1999 Serbien bombardierte. Doch erstens kennzeichnete er dieses Vorgehen als Ausnahme, und zweitens ging es unleugbar darum, Massenmorde
und ethnische Säuberungen im Kosovo zu stoppen. Was Rogosin hingegen, offenbar im Auftrag des Kreml, herbeifantasierte, erweckte
den Anschein eines neu aufkeimenden Ethno-Imperialismus. Wenn Russland wirklich glaubt, das pannationale Russentum sei als
Zivilisationswert höhereinzustufen als die Staatlichkeit seiner ehemaligen Vasallen, dann spricht es außenpolitisch eine totgeglaubte Sprache.
Europa war
not amused
. Doch für eine solche Politik fehlt es der vornehmen Brüsseler Meta-Demokratie an Verdauungskraft. Gerade weil sich Europa
so strikt zivilisierten Spielregeln verschrieben hat, gerade weil es die konsenstechnisch fortschrittlichste Region des Planeten
ist, mangelt es ihm an Regeln zum Umgang mit Regelverletztern. Angesichts des politischen Sperrfeuers aus Moskau reagierte
Europa wieder einmal damenhaft. Es gab sich verschnupft. Im Frühherbst 2008 wirkten die E U-Länder wie Teilnehmer einer gediegenen Familienfeier, an deren Rand ein zu kurz gekommener Cousin kostbares Geschirr zerschmiss.
Man zeigte sich pikiert, mochte aber die projizierte Grundeintracht nicht zerstören. Auf ihrem ersten Gipfel nach dem Georgienkrieg
folgerten die 27 Außenminister der EU sparsam indigniert: »Wir können nicht so weitermachen, als wäre nichts passiert.« Was das heißen sollte,
legten sie nicht dar.
Ideen, wie Europa mehr Härte hätte zeigen könnte, waren allenthalben
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