So nicht, Europa!
traumatisch haben die Ereignisse nach 1990 auf die russische Seele gewirkt.
Als sei diese Schrumpfung nicht schon erniedrigend genug gewesen, machte als Nächstes die Nato dem gerupften Reich auch noch
sein Umfeld streitig. Statt sich, wie der Warschauer Pakt, wegen Wegfalls des Feindbildes aufzulösen, expandierte das Bündnis
nach Osten und bot nicht nur der Ukraine, sondern auch Georgien an, »eines Tages Mitglied der Nato zu sein«. Diese Formulierung
(etwas überraschend gefunden beim Nato-Gipfel in Bukarest im Frühjahr 2008) löste im Kreml Wutsausbrüche aus. Statt Demut
zu üben, so empfand man es in Moskau, setzte die Nato die Demütigung Russlands fort. Es gibt erfahrene Diplomaten, die glauben,
Russland habe genau wegen dieses mangelnden Einfühlungsvermögens des Westens den Georgienkrieg provoziert. Moskau habe damit
zeigen wollen, dass es einer rücksichtslos expandierenden Nato keinesfalls widerstandslos das Feld überlassen werde.
Die neuen Spielregeln der Welt – Multilaterismus statt Machtpolitik, Synergie statt Aggression – sind ohne Moskaus Zutun entstanden. Mehr noch: Die neue
Weltordnung hat Russland als relativen Verlierer zurückgelassen. Es fühlt sich konsequenterweise nicht so streng gebunden
an die neuen Spielregeln wie alle anderen. Auf die Frage, ob der Gewaltherrscher Stalin, würde er heute bei Wahlen antreten,
Chancen habe, antworteten im Jahr 2005 51 Prozent der jungen Russen, er sei ein weiser Führer gewesen. 56 Prozent befanden, Stalin habe mehr Gutes als Schlechtes getan. 57 »Die gegenwärtige Stimmung in Russland erinnert an das Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, als die Deutschen sich über
das ›Schanddiktat von Versailles‹ beschwerten, das einem erschöpften Deutschland von den Siegermächten auferlegt wurde«, glaubt
der amerikanische Essayist Robert Kagan. 58
Die Motivlage, die sich aus dem »Post-Sowjetunion-Syndrom«ergibt, muss in Rechnung stellen, wer Russland als möglichst kultivierten Partner gewinnen möchte. Die (Ohn)Mächtigen Moskaus
werden sich nicht mit Peitschenhieben wie dem Ausschluss aus der G8, Visabeschränkungen oder einer Blockade des Freihandels
zur gedeihlichen Zusammenarbeit zwingen lassen. Die Empörung des Augenblicks wäre deshalb nach dem Georgienkrieg kein guter
Ratgeber gewesen für eine neue Russlandpolitik der EU. Doch fortdauerndes Beschweigen und Beschwichtigen sind es ebenso wenig. Die Hoffnung, nach dem Ende des Kalten Krieges würde
Russland wirtschaftliche Integration verfolgen statt geopolitische Rivalität zu üben, hat sich nicht erfüllt. Russland betreibt
das eine schon – und das andere noch.
Die Sanftheit des Klügeren könnte Europas Stärke sein gegenüber diesem schwierigen Nachbar. Warum aber bringt die EU nicht
die Härte auf, dieser Erkenntnis zu folgen? Es reicht nicht zu beschwören, dass die »strategische Partnerschaft« mit Russland
weitergehen soll, wenn es sowohl bei der Partnerschaft wie auch bei der Strategie hapert. Augenfällig wird dieser europäische
Mangel jedes Jahr aufs Neue ganz ohne Krieg, und zwar auf dem wichtigsten und vitalsten Beziehungsfeld zu Russland. Dem der
Energiepolitik.
Russland ist keine Energiesupermacht. Es besitzt lediglich sechs Prozent der bekannten Weltölreserven. Mit einem Viertel der
natürlichen Reserven und einem Fünftel der weltweiten Produktion ist es zwar reich an Erdgas. Doch hat Moskau jemals Anstalten
gemacht, dieses Potenzial als politische Waffe gegen Europa einzusetzen? Keineswegs. Selbst in den Hoch-Zeiten des Kalten
Krieges hat die Sowjetunion die Gaszufuhr nach Europa kein einziges Mal gekappt. Aus gutem Grund. So reich das Land an Bodenschätzen
sein mag, so arm ist es an moderner Fördertechnik. Die Mittel zur Bergung seiner Schätze muss Gazprom, der staatlich-russische
Energiekonzern, aus dem Westen beziehen. Dazu braucht es das Geld aus den Verkaufserlösen. Zwei Drittel der russischen Gasexporte
strömen in die EU. Ohne den Großkunden Europa also würden Moskaus Gasquellen schnell versiegen und der Staatshaushalt Risse bekommen; er besteht
zu 22 Prozent aus Gazprom-Einnahmen (der Wert des gigantischen Unternehmens ist von 10 Milliarden Dollar im Jahr 2000 auf 300 Milliarden im Jahr 2006 emporgeschnellt 59 ).
Von Europa aus betrachtet ist die Abhängigkeit geringer: Die russischen Gasimporte machen knapp 30 Prozent des E U-Ver brauchs aus (die beiden anderen
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