So nicht, Europa!
gehandelt worden in Brüssel. Aus Polen kam der Vorschlag,
die EU könnte Reisebeschränkungen erlassen, etwa für russische Regierungs- oder Armeevertreter. Hausverbot für die schlimmsten
Krawallmacher also? Die Staatschefs verwarfen die Idee. Der britische Außenminister David Miliband schlug vor, Russland teilweise
aus der G8, also der Gruppe der wichtigsten Industrienationen der Welt, auszuschließen. Auch diese Option wurde nicht weiter
erörtert. Vom damaligen amerikanischen Präsidentschaftsbewerber Barack Obama kam der Vorschlag, der Westen könnte die Bestrebungen
Russlands, der Welthandelsorganisation (WTO) beizutreten, vorerst blockieren. Schließlich kursierte die Idee, die EU könne
darauf dringen, die Olympischen Winterspiele 2014 nicht in der Schwarzmeerstadt Sotschi stattfinden zu lassen. Auch diese
Optionen wurden nicht weiter verfolgt.
Tatsächlich sollten, wie sich später zeigte, weder die anhaltende Teilbesatzung Georgiens noch die spätere völkerrechtswidrige
Anerkennung Südossetiens und Abchasiens durch Moskau spürbare Folgen für die Putinisten haben. Zwar verurteilten die Regierungschefs
der Union in einem Gipfelcommuniqué all diese Aktionen. Doch statt aus diesen Feststellungen Konsequenzen zu ziehen, sprach
Bundeskanzlerin Angela Merkel im November 2008 davon, dass »die Evaluierung [über die Kriegsursachen und -abläufe] beginnenund fortgesetzt werden« müsse. Die E U-Chefs beschlossen lediglich, die Verhandlungen über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland vorerst auf
Eis zu legen. Das weitere Vorgehen gegenüber Russland sollte von der Antwort auf die Frage abhängig gemacht werden, wer den
Krieg in Georgien eigentlich verschuldet hatte. Zur Klärung setzte die EU eine Kommission unter Leitung der schweizerischen
Diplomatin Heidi Tagliavini ein. Letzten Endes dauerte es genau 71 Tage, bis genau das passierte, was Europas Außenminister eigentlich ausgeschlossen hatten. Die EU machte gegenüber Russland
genauso weiter wie vor dem Krieg. Am 8. Dezember 2008 beschlossen die Außenminister in Brüssel, die Verhandlungen über das neue Partnerschaftsabkommen mit Moskau
wieder aufzunehmen.
Von der zuvor festgelegten Bedingung, nämlich dass Russlands seine Truppen auf die Positionen vor Ausbruch der Feindseligkeiten
am 7. August zurückverlegen sollte, war keine Rede mehr. Auch die Kriegsschuldfrage war noch völlig ungeklärt, als die EU zum
business as usual
zurückkehrte. Die Tagliavini-Kommission kam erst im September 2009 zu dem Ergebnis, dass Russland den georgischen Präsidenten
politisch wie militärisch provoziert hatte – und dass Saakaschwili dem Kreml den Gefallen getan hatte, in die Falle zu tappen.
Einzig Litauen hatte in Brüssel gegen die Entscheidung der übrigen E U-Länder protestiert. In Europa, so beschreibt der Vertreter eines südosteuropäischen Landes die psychologischen Lager, herrschten
im Wesentlichen drei Haltungen gegenüber Russland vor: Angst (in den ehemaligen Ostblockstaaten), Ausgleich (in Großbritannien
und Italien) und Geschäftsinteressen (in Deutschland und Frankreich). »Das in Einklang zu bringen, ist natürlich schwierig«,
sagt der Diplomat. Durchgesetzt haben sich am Ende die Großen.
Nun könnte es ja ganz klug sein, einen, um im Bild zu bleiben, pöbelnden Cousin nicht gleich in Schimpf und Schande vom Familienfest
zu jagen. Andererseits wird Nachsichtigkeit allein die schwierigen Beziehungen zwischen der EU und Russland nicht lösen. Damit
Europas Sanftheit zu einer Strategie würde, müsste die EU zunächst einmal versuchen, die Motive des Problemkindes zu ergründen.
Russland, sagen viele Kenner des Landes, leidet tatsächlich unter einem Halbstarken-Komplex. Dafür gibt es nachvollziehbare
Gründe. Das Territorium eines riesigen Landimperiumsist zerfallen, quasi zurechtgestutzt. Solche Verluste schmerzen viel nachhaltiger als etwa die Einbuße von Überseegebieten,
wie sie die europäischen Kolonialreiche im 19. und 20. Jahrhundert einstecken mussten. Die Sicherheit Russlands, schrieb der englische Historiker Tony Judt, habe sich schon immer
nach seinem Territorium bemessen. Misstrauen und Vorsicht gegenüber dem Westen habe zur »neurotischen Weltsicht des Kreml«
(George Kennan) geführt. 56 Das Abschmelzen ihrer geografischen Masse, das die sterbende Sowjetunion hinnehmen musste, hat diese Ängste bestätigt. Entsprechend
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