So nicht, Europa!
Angela Merkel stimmte schließlich
zu, dass sich die EU in solch »außergewöhnlichen Umständen« befinde, dass eine Ausnahme vom Bail-Out-Verbot im Sinne des Artikel
122 Lissabon-Vertrag geboten sei. Die Frage war nur noch, wie viel Geld Europa aufbieten müsste, um den Euro zu stützen.
Am Montag, nachts um halb drei, trat ein sichtlich erschöpfter E U-Währungskommissar vor die Brüsseler Presse. »Die besten Entscheidungen trifft die Europäische Union nachts«, scherzte der Finne Olli Rehn.
Und verkündete dann Zahlen, wie sie die Welt noch nicht gehört hatte. 440 Milliarden Euro, so die Entscheidung der Staatschefs, lassen die Euro-Länder in einen Rettungsfonds fließen, 123 Milliarden davon Deutschland. Aus der Kasse der E U-Kommission kommen noch einmal 60 Milliarden dazu, und bis zu 250 Milliarden Euro steuert der Internationale Währungsfonds bei. Das Gesamtpaket zur Rettung der E U-Währung war damit auf ein Volumen von 750 Milliarden Euro angewachsen. Gerade noch rechtzeitig vor der Eröffnung der Börsen, so brüsteten sich seine Architekten, sei
ein Bollwerk gegen Euro-feindliche Spekulationen errichtet worden. Von den nationalen Parlamenten wurde schlicht erwartet,
dass sie den Krediten zustimmten. Im Bundestag griff Angela zwei Wochen nach der Brüsseler Nachtsitzung zu pathetischerRhetorik, um den Abgeordneten ein Ja abzuringen. »Es geht um viel mehr als um eine Währungsunion«, sagte sie, »diese Bewährungsprobe
ist existentiell.«
Europa hat diese Bewährungsprobe bestanden, einerseits. Es hat sich für 750 Milliarden Euro einen Regenschirm gekauft, den es jederzeit aufklappen kann, um Angriffe auf den Euro-Raum abzuwenden. Das
mag ein beeindruckender Beweis des gegenseitigen Beistandswillens sein. Doch zu dem finanziellen Preis kommt langfristig ein
politischer. Der Währungsraum hat sich grundlegend verwandelt. Gedacht war er als Kooperative von Eigentümern, in der jeder
für den Zustand seines Hauses verantwortlich ist. Daraus geworden ist eine WG mit Gemeinschaftskasse. Dabei waren es in der
Vergangenheit gerade die harten Regeln zwischen den verschiedenen Hauseigentümern, die dem Euro auf dem Weltmarkt Ansehen
und Werthaltigkeit gesichert haben.
Das bleibende Signal des europäischen Krisenmanagements vom Frühjahr 2010 lautet: Im Zweifel nehmen es die E U-Staaten mit ihren Pflichten und Verträgen nicht so genau. Die EU sollte sich nicht wundern, wenn als Kollateralschaden das Image
dieser Union weiter sinkt, und zwar sowohl bei den Bürgern wie auch an den Märkten. Wie soll es irgendwem Respekt einflößen,
wenn die EU immer wieder beweist, dass sie wesentlich besser darin ist, Regeln zu erlassen, als darin, sich an Regeln zu halten?
Der Rowdy im Nachbarhaus: Russland und die EU
Gazprom ist Russland, und Russland ist in angriffslustiger und nationalistischer Stimmung. Beides verspricht keine einfachen
Beziehungen für die Zukunft.
Dimitri Trenin, Leiter des Carnegie-Zentrums Moskau
Es ist doch einfach lächerlich, dass die 27 Europäer in getrennter Formation den Energieanbietern gegenübertreten. Herr Putin sitzt allein da, und dann kommen da 27 Europäer und erklären ihm, wie die europäische Energiepolitik geregelt werden muss. Das beeindruckt die Russen nicht.
Jean-Claude Juncker
Am Ende dieses kriegerischen Sommers gingen einige E U-Diplo maten breitbeiniger durch Brüssel als zuvor. Ein zufriedener Stolz lag über der Stadt, und zwar infolge einer Friedensleistung,
die ein europäischer Emissär im August 2008 vollbracht hatte.
Nach dem Ausbruch des Kaukasuskrieges zwischen Russland und Georgien brachte Nicolas Sarkozy, damals nicht nur französischer
Staatspräsident, sondern auch E U-Ratsvorsitzender , in ambitionierter Manier die Parteien zu Waffenstillstandsverhandlungen. Schon am 13. August legte der Franzose einen Sechs-Punkte-Plan vor, den in den folgenden drei Tagen die Vertreter Russlands, Georgiens
sowie der abtrünnigen Provinzen Abchasiens und Südossetiens unterzeichneten. Er sah vor, dass die EU mehrere Hundert Militärbeobachter
in die Region schickten und Russland und Georgien im Gegenzug ihre Truppen auf die Vorkriegsstützpunkte zurückziehen sollten.
Das langfristige Ergebnis von Sarkozys Pendel-Diplomatie zwischen Moskau und Tiflis mag nicht formidabel sein. Die EU nahm
es später hin, dass die von ihr noch immer als georgisch betrachteten Provinzen Südossetien und
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