So schoen und kalt und tot
lächeln.
Während Melanie das Portrait anstarrte schienen sich die Lippen noch etwas in die Breite zu ziehen, zeigten zwei Reihen weißer Zähne. Ein hämisches Lächeln veränderte den gesamten Ausdruck des Mannes, machte ihn zu einem Gespenst, einer grausamen Grimasse.
Mit einem lauten Aufschrei rannte Melanie die Treppen hinauf bis zu ihrem Zimmer, das sie zu ihrer Erleichterung sofort fand. Sie riss die Türe auf und warf sie gleich danach hinter sich wieder zu. Am ganzen Körper zitternd lief sie ins Nebenzimmer.
Alanis schlief bereits tief und fest. Sie hatte offensichtlich nichts von dem Lärm, den sie verursacht hatte, mitbekommen. Darüber war Melanie erleichtert. Sie griff nach der Hand der Schwester und hielt sie in der ihren. Auf diese Weise konnte sie sich langsam beruhigen.
Da fiel ihr Blick auf die Uhr, die auf dem Nachttischchen stand. Es war weit nach Mitternacht, sie musste also mehrere Stunden im Park verbracht haben.
Entsetzt starrte Melanie noch immer die Uhr an. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Was war in den letzten Stunden geschehen? Warum hatte sie nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war? Sie wusste nur, dass sie sich zwischen Traum und Wirklichkeit befunden hatte, nicht fähig gewesen war, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch was war passiert da draußen im Park in der Dunkelheit?
So sehr Melanie auch nachdachte, in ihrem Kopf gähnte ein großes dunkles Loch. Sie richtete sich auf und legte die schmale Hand ihrer Schwester auf die Bettdecke zurück. Dann wankte sie zitternd in ihr Zimmer. Hastig zog sie sich aus und kroch unter ihre Decke.
Obwohl Melanie davon überzeugt war, diese Nacht kein Auge mehr zumachen zu können war sie doch bald darauf eingeschlafen. Durch ihre schweren Träume geisterte ein schmales Männergesicht, dessen Mund sich zu einem hämischen Grinsen verzogen hatte.
* * *
Ziemlich früh am nächsten Morgen fuhr Laird Ian nach Glannagan, um sich nach Theresa Mansfield zu erkundigen. Er ahnte zwar, dass die Tote aus dem Zug seine erwartete Erzieherin war, doch er wollte sich vergewissern, dass er sich nicht irrte.
Außerdem hatte er ja von Daisy erfahren, dass die Ermordete keine Papiere bei sich gehabt hatte, deshalb würde er vermutlich sein Teil an der Aufklärung der Identität der Toten beitragen können. Ian McGregor war ein aufrechter Mann, der für die Gerechtigkeit keine Mühen und Anstrengungen scheute.
Inzwischen ging auf Rochester Castle das Leben ganz normal weiter. Angela versorgte mit all ihrer Liebe die kleine Leslie, die inzwischen fast ein Jahr alt war und bereits die ersten Gehversuche startete.
Benjamin McGregor verbrachte, wie meistens in den letzten Monaten, den Morgen im Park. Wenn man vom Fenster der Bibliothek lange genug nach unten schaute, konnte man den Jungen eilig zwischen Büschen herum huschen sehen, als hätte er wichtige Arbeiten zu verrichten. Aber was er tat, konnte man nie so genau erkennen. Nur manchmal trug er etwas, das meist in Tücher gehüllt war.
Bis jetzt hatte noch niemand daran gedacht, ihn danach zu fragen außer Lady Angela, die jedoch immer nur ausweichende Antworten bekam. Frei und ohne Zwänge wuchs der Sohn des Hauses auf, und wenn Benjamin daran dachte, dass er ab jetzt wieder eine Lehrerin haben würde, stieg heißer Zorn in ihm auf. Er würde dieser Person schon das Fürchten beibringen, nahm er sich ganz fest vor.
Alanis erwachte ziemlich früh, denn die ersten Sonnenstrahlen kitzelten sie an der Nase. Sie blinzelte, und fast im selben Moment fiel ihr wieder ein, wo sie sich befand und aus welchem Grund. Auch das Verbrechen, das in ihrem Zug geschehen war, stand wieder in aller Deutlichkeit vor ihren Augen.
Sie richtete sich auf und schaute sich suchend in ihrem Zimmer um. „Countess, bist du hier?“, fragte sie leise. Doch sie konnte den imaginären weißen Hund nicht entdecken. Enttäuscht legte sie sich wieder zurück und starrte an die graue Decke.
Im nächsten Moment fiel ihr Melanies abendliche Exkursion in den Park ein. War die Schwester heil zurückgekommen? Alanis konnte sich nicht daran erinnern, in der letzte Nacht ein Lebenszeichen von Melanie bekommen zu haben.
Mit einem leisen Schreckenslaut fuhr Alanis erneut hoch und war auch schon mit einem Satz aus dem Bett. Barfüßig tappte sie zu der halb geöffneten Verbindungstür und warf einen ängstlichen Blick ins angrenzende Zimmer.
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