So schoen und kalt und tot
Ruhig saß er an einem Ende des Sarges und musterte die beiden Frauen unbeweglich und teilnahmslos. „Wir gehen, komm jetzt.“ Sie wollte die Schwester am Arm packen, weil sie nicht auf ihre Bitte hin reagierte.
Doch Alanis war schneller. Ein paar Schritte noch – jetzt hatte sie den geöffneten Sarg erreicht. Wie gebannt schaute sie auf das blasse Gesicht der Toten. „Wer ist das? Sie sieht so schön aus.“
Mit zitternden Beinen kam nun auch Melanie näher. Sie wollte sich vor ihrer kleinen Schwester nicht ängstlich zeigen, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie holte tief Luft, und wieder war da dieser beißende Geruch nach Tod.
„Eine alte Frau. Ihr Gesicht sieht ganz ebenmäßig aus, als würde sie noch leben“, flüsterte Melanie. „Sie muss einmal sehr schön gewesen sein, das kann man jetzt noch sehen.“ Sie beugte sich ein wenig tiefer. Wieder nahm ihr der intensive Geruch nach altem, geronnenem Blut fast den Atem.
Plötzlich zuckte sie zusammen. Ihr Blick fiel auf eine Brosche, die die Tote an ihrem Totenhemd aus weißer Seide hatte. Zwar war es ein wenig von Stoff verdeckt, doch Melanie konnte es dennoch erkennen. Es war eine Krone mit einer Sonne darüber, dieselbe Brosche, die sie aus dem Besitz ihrer verstorbenen Mutter hatte.
„Ich glaube es nicht“, stöhnte sie. „Rätsel über Rätsel. Sieh dir diese Brosche an, Alanis. Erkennst du sie?“ Angespannt wartete sie auf die Antwort ihrer Schwester.
Alanis zog vorsichtig ein Stückchen von der Bluse weg, dann nickte sie. „Sie hat dieselbe Brosche wie du auch. Vielleicht bist du mit ihr verwandt“, vermutete sie. „Jetzt müssen wir nur noch wissen, wer sie ist. Schade, dass wir sie nicht mehr fragen können.“
Melanie wich zurück. „Ich möchte wieder gehen“, sagte sie bestimmt. „Bitte, Alanis, komm endlich, ich…“ Sie wich ein Stück zurück und prallte gegen ein instabiles Hindernis, das sich weich und ziemlich lebendig anfühlte.
Mit einem Entsetzenslaut drehte sie sich um und schaute in zwei wasserblaue Augen, die sie forschend musterten. Seine übergroßen Hände hielten sie wie ein Schraubstock fest. „Nicht fallen, Lady“, knurrte der Mann, der die sechzig vermutlich bereits weit überschritten hatte.
Melanie konnte nichts sagen. Sie hatte das Gefühl, als würde sich der Boden unter ihr jeden Moment auftun und sie verschlingen. „Wer sind Sie? Ich hab Sie nicht kommen hören. Sie können sich doch nicht so anschleichen.“ Sie versuchte, ärgerlich zu sein.
„Kelab“, antwortete der Mann. „Ich bin der Totengräber Kelab.“ Er deutete auf den Sarg. „Hab ich gemacht“, fuhr er fort mit Stolz in der Stimme.
„Was haben Sie gemacht, Mister Kelab?“, fragte Melanie erschrocken. „Haben Sie sie umgebracht?“
Der Mann brach in lautes meckerndes Gelächter aus. Es schüttelte seinen mageren Körper und verzog sein faltiges Gesicht zu einer hämischen Grimasse. „Nicht umgebracht“, antwortete er. „Als ich sie bekam sah sie schlimm aus, jetzt ist sie wieder schön. Das habe ich gemacht.“ Er trat an den Sarg. „Sie wollte mich nie in ihre Nähe lassen, dabei hab ich sie immer sehr verehrt. Jetzt musste sie mir vieles erlauben.“ Wieder lachte er, dieses Mal sehr leise.
„Wer ist diese Frau? Ich habe die Brosche an ihrem Totenhemd gesehen. Sie kommt mir bekannt vor.“ Melanie musste es einfach fragen, obwohl ihr Gefühl sagte, dass sie das besser nicht getan hätte.
Kelab, der freundliche Totengräber, betrachtete lange die Brosche. „Besonders schönes Stück“, murmelte er. „So etwas kann man sich nur leisten, wenn man genügend Geld hat.“ Er kaute auf seiner Unterlippe herum. „Sie wollte es unbedingt mit ins Grab nehmen, wenn sie mal stirbt. Ich glaub, da hängt ihre Seligkeit dran.“ Er verzog die Mundwinkel ein wenig nach unten.
„Wer ist diese Frau?“, beharrte Melanie, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. „So reden Sie doch schon.“
„Warum regen Sie sich denn so auf, Lady?“ Kelab spuckte auf den Boden. „Das ist Lady Mac Pie, sieht man doch. Die Mac Pies haben alle dieselbe Nase. Unverwechselbar. Ich wollte sie mal heiraten, aber ich war ihr nicht edel genug. Jetzt ist sie tot, aber ich lebe noch.“ Traurig schaute er zu dem Sarg.
„Sie war noch nicht in dem Alter, in dem man so einfach stirbt, oder?“, fragte Melanie vorsichtig.
„Knapp siebzig“, antwortete
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