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So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)

So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)

Titel: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Schlingensief
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ich werde jetzt nicht wie er anfangen, alle mitzuziehen. Wie Aino sagt: Du hast doch so viel Leute, die sich um dich kümmern. Natürlich, ganze Armeen sind schon mobilisiert. Nee! Ich bin nicht mehr der, der ich bin. Bin nicht der, der ich war. Ich bin nicht der, der ich werden wollte. Alles Quatsch! Ich habe einfach in mir die Entscheidung getroffen: Ich bin alleine. Und ob Aino mich dann liebt oder nicht liebt, ob Claudia mich hauen will, Antje nicht beten kann oder was weiß ich, das ist alles nicht mehr mein Thema.
    Das hat mir das Aufklärungsgespräch gestern mit Professor Kaiser klargemacht. Der war ganz sachlich: »Nach der OP, Ihr Herz, sehr schwach, muss ja die ganze Lunge beatmen, schafft es kaum, Afrika werden Sie nicht packen, können Sie sich abschminken. Die Hitze und dann Ihr Herz, nee!« Und dann noch der Hammer: »Wenn ich Ihre Stimmbänder sehe und da sind Knubbel dran, muss ich die rausmachen. Das verletzt natürlich diesen Stimmbandnerv, das ist klar. Kann auch sein, dass ich ihn ganz durchtrennen muss. Muss ja sauber sein da drin.«
    Sag mal, wo sind wir denn? Das ist doch alles nicht zu fassen! Nee, ich bin innerlich tot. Ich lass mir nicht die halbe Lunge rausreißen, damit ich mal sehe, wie die Welt aussieht, wenn man mit halbem Atem durch die Gegend schlurft. Nee, das mach ich nicht. Und wieder auf die Liege. Und noch mal nachgucken. Das ist doch alles nicht zu fassen! Ist doch alles nicht zu fassen!
    Ich zieh mich zurück, ich bitte meine Leute, im Büro alleine weiterzumachen, eigene Entscheidungen zu treffen, vielleicht noch einen Kurzbericht zu schreiben. Aber alle anderen Beziehungen breche ich ab, alle.Aino muss auch raus aus dem Spiel – das breche ich ab. Ich ziehe mich zurück. Und wenn ich aufwache, weiß ich, dass da keiner ist, der irgendwelche Säfte absaugt oder Kraft geben will oder sonst etwas. Weil dieses Kraftspielchen spielt man nicht mehr. Das Kraftspielchen ist einfach zu Ende.

    Ich werde die Entscheidung treffen müssen, ob ich mir in den Kopf schieße, habe aber keine Pistole; ob ich in die Badewanne steige und mir einfach die Adern aufmache; oder ob ich irgendwie aus dem Fenster falle, dazu ist es hier aber nicht hoch genug. Oder ob ich hoffentlich Tabletten kriege und irgendwas anderes: Denn der Lebenswille, den ich die ganze Zeit geheuchelt habe, dieses Gefühl von, ja, der Christoph, der hat Kraft, der macht’s – das ist vorbei. Ich bin müde. Ich bin fertig. Ich bin schon lange müde. Ich habe genug gestrampelt. Ich habe genug gemacht. Und ich finde das jetzt auch nicht pathetisch oder sonst was, ist einfach ein Realismus, der einbricht. Allein die Vorstellung, dass ich da etwas Fressendes in mir habe, das sich da irgendwo reinschleicht und mich in die Ecke eines gehandicapten, atemlosen Überlebenskämpfers oder so zwängt, nee! Das geht nicht. Ich gehe dahin, wo Schmerzen noch erlaubt sind, wo Schmerzen nicht sofort im System erkennbar sind.An anderen Orten kann man besser Schmerzen haben.

    Irgendwie ist es vorbei. Ich starre in den Kamin, und der ist leer. Ich habe auch keine Lust mehr, ihn anzuzünden, nicht mal mehr die Lust, irgendwas zu sehen, was verbrennt. Es gibt keine Blumen, die ich unbedingt noch haben will, noch nicht mal verwelkte Blumen. Es gibt nur diesen unverständlichen Unmut auf den Vater und auch auf die Mutter. Ich will meine Eltern nicht. Ich will nicht! Papa ist schon weg, Mama soll auch noch weg. Die kann ihre Schokodickmänner mitnehmen. Da kann sie den ganzen Tag Schokolade fressen. Die kann auch ihr Haus mitnehmen und ihre ganze Kirchenscheiße.Was ist denn das für eine Familie? Was ist denn da los? Was soll das? Diese Trauer- und Ohnmachtsexistenz meines Vaters, diese permanente Depression der letzten zehn Jahre, werde ich ihm niemals verzeihen. Ja gut, das Auge – das will keiner erleben, wenn die Augen erblinden. Aber ich gebe noch einen drauf: Ich erblinde nicht, sondern ich zerfresse mir die Seele.
    Der Schleim der Väter legt sich auf die Lungen. Frisst sich rein und halbiert den Atem. Heute konnte ich zum ersten Mal wieder durchatmen, als ich meiner Mutter am Telefon gesagt habe, wie sehr ich gegen meinenVater kämpfe. Als ziehe er mir ständig an den Armen, den Beinen und an der Seele, damit ich ihm folge. Das empfinde ich als terroristisch, aber er war kein Terrorist, er war manchmal ein Tyrann, ein wehleidiges, von der Depression zerfressenes altes Männlein, das uns alle auf Trab gehalten hat. Papa hier und Papa da,

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