So schwer, sich leicht zu fuehlen
sicherheitshalber mal rein gar nichts. Und tatsächlich, wir kamen an, und es war ein groÃer, liebevoll gedeckter Tisch für uns vorbereitet. Mit Kuchen und Lebkuchen! Hilfe, die Kalorien! Kein Obst, kein Joghurt weit und breit.
Ich musste also von den schrecklichen Kalorienbomben essen. Und dann beobachteten mich natürlich wieder alle mit Argusaugen, um zu sehen, ob ich tatsächlich essen würde oder nicht. Meine Mutter flehte mich an, doch ein bisschen was zu mir zu nehmen.
Natürlich war es unangenehm für meine Familie, dass jeder sie auf mich ansprach. Es war ja deutlich zu sehen, dass ich unterernährt war. AuÃerdem kannte man mich an diesem Ort, weil wir schon mehrmals dort gewesen waren und die Leute mich als lebensfrohes, fülliges Mädchen in Erinnerung hatten!
Meine Mutter, die einzige weibliche Bezugsperson in meiner Familie, hat meine Ausreden rund um das Essen viel schneller durchschaut gehabt als meine Brüder und mein Vater. Diese glaubten mir viel länger, wenn ich sie wieder einmal belog. Doch meiner Mutter stand die Sorge ins Gesicht geschrieben. Ihr war klar, dass ich so nicht mehr lange weitermachen konnte. Doch sooft sie mich auch darauf ansprach, es half einfach nichts â im Gegenteil. Ich zog mich nur mehr und mehr zurück und redete überhaupt nicht mehr mit ihr.
Widerstrebend knabberte ich an einem Stückchen Lebkuchen rum. Ich war wütend und hätte die anderen am liebsten alle angeschrien! Wussten sie denn nicht, dass ich von diesem Zeug sicher sofort zwei Kilo zunehmen würde?!
Während des Auftrittes wurde mir schlagartig hundeelend. Ich wollte mich zu meinem Bruder herumdrehen, der hinter mir Bass spielte, doch da wurde mir auch schon schwarz vor Augen. Im nächsten Moment wurde ich ohnmächtig und fiel vorwärts die Treppe runter!
Was danach geschah, kann ich nicht sagen, weil ich ja bewusstlos war. Meine Mutter erzählte mir hinterher, ich sei plötzlich kreidebleich geworden, und dann lag ich auch schon auf dem Boden! Zum Glück war ein Arzt im Saal. Ich erwachte in einem Nebenzimmer und wurde von dem Arzt gefragt, ob ich denn schon etwas gegessen hätte.
Meine Mutter antwortete für mich: âNein, sie hat das Frühstück ausgelassen.â
Was? Seid ihr denn alle blind? Ich habe doch Lebkuchen genascht! In meiner Welt waren die paar Gramm Lebkuchen, die in meinem Bauch angekommen waren, viel nahrhafter als ein normales Frühstück! Gut, in meiner Welt wurde auch alles nach Kalorien berechnet.
Sie stellten mir Salzstangen und Cola hin und baten mich, davon zu essen. Meine einzige Frage war: âKann ich Cola light haben?â Ich hatte immer noch nichts begriffen.
Doch es kam noch schlimmer. Eines Morgens wachte ich auf und hatte kein Gefühl mehr in meinem linken Bein. Nichts! Ich wollte ins Bad gehen, doch mein Bein machte einfach nicht mit. Ich zog es hinter mir her, es war wie tot. Wie ich mich für mein Hinken schämte! Die groÃe Pause in der Schule wurde zum blanken Horror. Nicht nur musste ich mir anhören, wie die anderen mir nachriefen: âNa, Klettergerüst?â, oder âVorsicht, es ist windig! Halt dich fest, sonst wirst du noch weggeweht!
Jetzt zog ich also auch noch mein Bein hinter mir her und alle starrten mich an!
Verzweifelt ging ich zum Arzt, der mich untersuchte. Er wollte wissen, ob ich in letzter Zeit meine Ernährung umgestellt hätte. Nein, sicher nicht. An einem halben Apfel pro Tag kann man ja nicht mehr wirklich viel ändern. Die Diagnose des Arztes war ein Vitamin B-Mangel, den er mit täglichen Spritzen ausgleichen wollte. Diese Spritzen versetzten mich in neue Panik. Die Schmerzen waren mir dabei egal, es ging mir darum, dass ich keine Ahnung hatte, wie viele Kalorien in so einer Spritze waren! Sicherheitshalber fuhr ich jeden Tag die Strecke zum Arzt mit dem Fahrrad.
Ich musste nun auch Krankengymnastik machen, um mein Bein wieder fit zu machen. Doch das waren sehr einfache Ãbungen, und jedes Mal, wenn ich allein im Raum war, nahm ich mir die schweren Medizinbälle vor und trainierte mit denen. Das würde sicher mehr Kalorien verbrennen als diese banalen Ãbungen!
Ein Skelett auf Tournee
Tagebucheintrag vom 4. Mai 1996
Meinem Bein geht es wieder etwas besser. Gott sei Dank. Ich bin so froh, dass ich meinen Glauben an Gott in dieser Zeit behalten habe. Ohne ihn wäre ich sicher kurz vorm Selbstmord!
Ja, meinen Glauben an
Weitere Kostenlose Bücher