So schwer, sich leicht zu fuehlen
ich toll fand, vor Schreck vor mir weglief?
Es fehlte etwas. Sehr viel sogar. Doch was war es?
Ich fing an, ganz anders über âDickeâ zu denken â die eigentlich ganz normalgewichtig waren, nur in meiner verzerrten Wahrnehmung nicht. Ja, ich wurde richtig eifersüchtig auf sie. Selbst meine liebe Austauschschülerin Céline war etwas mollig, und keinen störte es. Sie war bildhübsch, hatte viele Freunde, war lebhaft und für jeden Spaà zu haben. Ja, so war ich auch mal gewesen. Damals hatte ich aber gedacht, ich könnte nur glücklich sein, wenn ich dünn war. Nun, jetzt war ich dünn â aber alles andere als glücklich!
Im Ernst: War ich nicht deutlich glücklicher gewesen, als ich noch ein Moppelchen war und sich nur selten jemand in mich verliebte? War die Zuneigung, die ich damals bekommen hatte, nicht ernster gemeint als die oberflächlichen Anmachsprüche, die ich jetzt tagtäglich am Hals hatte? Irgendwie kannte ich mich nicht mehr aus. Ja, ich wurde nun viel mehr von Jungs beachtet â und es bedeutete mir rein gar nichts. Die Meisten kannten mich ja gar nicht wirklich. Und oft löste ich eben durch meine zerbrechliche Erscheinung Beschützerinstinkte bei ihnen aus, was ich aber eigentlich gar nicht wollte.
Eins war mir bald klar: Ich wollte nicht mehr bemitleidet werden. Jeder dachte, dass er meinen Krankenpfleger spielen und mich bemuttern müsste. Ich konnte genauso essen wie sie, das würde ich ihnen schon beweisen!
Bevor wir uns, wie jeden Abend, alle irgendwo trafen, ging ich einkaufen und packte alles in den Wagen, was ich mir die letzten Jahre verboten hatte: Kekse, Chips, normale Cola, Gummibärchen, Mohrenköpfe, Salzstangen, Mars und noch viel mehr. Die anderen staunten nicht schlecht, als ich alles vor ihnen ausbreitete und meinte: âBedient euch!â
Gleichzeitig griff ich selbst zur Schokolade, als sei das das Normalste auf Erden für mich! Den Geschmack kannte ich schon gar nicht mehr â Schokolade! Dazu dann noch Chips und Cola, was für ein Genuss! Ich war wie berauscht davon, Dinge in mich hineinzustopfen, die ich mir so lange verboten hatte!
Alle bewunderten mich dafür, dass ich solches Zeug essen und trotzdem so schlank bleiben konnte. âIch habe halt gute Geneâ, meinte ich dann gespielt selbstbewusst. Diesen Satz hatte ich schon mehrmals von irgendwelchen Topmodels im Fernsehen gehört und fand ihn in dieser Situation sehr angebracht. Und ich redete mir ein, dass mein Körper sich vielleicht umgestellt hätte und ich nun alles essen könne, wie andere Mädchen, denen das Glück der Superschlankgene mitgegeben worden war.
Abend für Abend kam nun das gleiche Ritual, und ich verbrachte eine wundervolle Woche mit meinen französischen Austauschschülern. Ich war die ganze Woche lang so gut drauf wie schon lange nicht mehr! Ich konnte essen und gleichzeitig schlank sein!
Nachdem die Franzosen wieder nach Hause gefahren waren, brach jedoch wieder der Alltag an. Ich vergrub mich wieder zu Hause und fühlte mich schlecht. Mit einem kleinen Unterschied: Ich konnte die Finger nicht mehr von dem süÃen Zeugs lassen.
Es war schockierend, wie schnell ich an Gewicht zulegte! Irgendwie hatte ich komplett die Kontrolle verloren. Gerade eben war ich doch noch so diszipliniert gewesen! All die verbotenen Lebensmittel machten mich plötzlich unwiderstehlich an, und ich hatte mich nicht mehr im Griff. Wo war meine Selbstbeherrschung nur hin?
Als nach einigen Wochen von allen Seiten die Bemerkungen kamen: âDu siehst wieder richtig gut ausâ, war das für mich der Abgrund. âDu siehst wieder gut ausâ bedeutete für mich soviel wie âDu bist wieder fett!â
Ich wollte das nicht, nicht noch einmal! Doch irgendwie war es geschehen. Schneller, als ich schauen konnte, war ich wieder dick geworden! Zumindest empfand ich es so, obwohl ich 63 Kilo wog und GröÃe 36 trug, also eigentlich noch sehr schlank war. Ich verhüllte meinen Körper in weiten Klamotten, schon allein, weil mir nichts anderes mehr passte. Mein Selbstbewusstsein litt schrecklich, und ich traute mich kaum noch vor die Tür.
Tagebucheintrag vom 5. Januar 1998
So, es ist furchtbar, aber wahr. Es ist Montag, der 5. Januar, abends. Die Waage zeigt 63Â kg an! Ich muss wohl auf mindestens 55Â kg runter. Und dann noch so auf 52Â kg. Sonst wird mich nicht einmal mehr Julien
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