So sinnlich wie dein Kuss
Jahren abgewendet hatte, seine Gefühle zu offenbaren? Immerhin sicherte er sich dadurch ab, dass er auf einem DNA-Test bestand, der jeden Zweifel an seiner Vaterschaft ausräumen sollte.
Aha, jetzt ergab alles einen Sinn!
Sie faltete den Brief sorgfältig zusammen und gab ihn Judd zurück.
„Davon hatte ich keine Ahnung. Nimmst du sein Angebot an?“
„Er kränkt meine Mutter – nach all den Jahren. Und da glaubst du, ich werfe mich in seine Arme?“
„Wie meinst du das, er kränkt deine Mutter?“
„Mit dem DNA-Test. Er traut ihr zu, dass sie ihn betrogen hat! Egal, was sonst noch in dem Brief steht, er hat sich kein bisschen geändert. Es ist offensichtlich, dass er noch immer das Sagen haben will. Und dann du …“
„Ich?“
„Welche Rolle spielst du bei alldem? Sollst du auch dabei helfen, mir die Rückkehr zu versüßen?“
Anna spürte, wie sie knallrot wurde. „Es gefällt mir nicht, was du da sagst …“
„Aber der Schluss liegt doch nahe! Überleg doch mal: Du kommst ins Haus meiner Familie. Du sagst nicht, wer du bist und was du wirklich willst. Und du gehst bereitwillig auf meine Annäherungsversuche ein. Jedenfalls hattest du nichts dagegen, als ich dich letzte Nacht geküsst habe.“
„Das war …“ Sie brach ab.
„Was war das, Anna?“, hakte er nach. „Doch wohl kaum reine Pflichterfüllung.“
Anna verbiss sich eine Erwiderung und sagte so ruhig wie möglich: „Ich habe meinen Auftrag erfüllt, du hast den Brief. Jetzt bist du am Zug.“
Nur leider hatte sie Charles damit enttäuscht. Sie schluckte. Nie hatte er sie um etwas Wichtigeres gebeten – und sie hatte versagt. Ein bitteres Eingeständnis!
„Bitte lass nicht zu, dass mein Verhalten deine Entscheidung beeinflusst! Dein Vater wollte nämlich, dass ich mich dir gegenüber völlig ehrlich verhalte. Es war meine eigene Idee, dich im Unklaren zu lassen.“
„Wieso das denn?“
„Ich wusste, dass er sich mit dir versöhnen will, und ich habe mir Sorgen gemacht, wie du es aufnimmst und ob du ihn vielleicht ausnützen willst. Er ist ein alter und kranker Mann, der keine Rückschläge mehr verkraften kann.“
„So denkst du über ihn?“
Sie nickte. „Du kennst ihn nicht. Schieb doch den Gedanken an die Vergangenheit beiseite. Vorbei ist vorbei. Vielleicht kannst du dann dir vorstellen, was es bedeutet, dass er alles wiedergutmachen will.“
Judd starrte sie an, ohne dass sie seine Miene deuten konnte.
Sie fühlte sich immer unwohler.
Annas Worte erschienen Judd wie eine Zumutung.
Was schlug sie da vor? Den Gedanken an die Vergangenheit beiseitezuschieben? Hatte sie überhaupt die leiseste Ahnung, was sie da von ihm verlangte?
Natürlich nicht. Woher sollte sie wissen, wie es sich anfühlte, von einem Moment auf den anderen vom geliebten Vater verstoßen zu werden? In eine neue Familie, eine völlig andere Welt versetzt zu werden? Stark sein zu müssen, weil die Mutter es erwartete?
Wie oft hatte er auf The Masters aus dem Fenster gesehen und die ankommenden Fahrzeuge beobachtet! Und dabei sehnlichst und wider alle Vernunft gehofft, sein Vater würde kommen …
Aber was er sich als Sechsjähriger so sehr gewünscht hatte, war nie geschehen. Bei Schulaufführungen hatte er es sich schnell abgewöhnt, Ausschau nach dem Mann zu halten, dem er angeblich wie aus dem Gesicht geschnitten war. Irgendwann begriff er, dass sein Leben nie wieder so werden würde wie früher.
Dadurch war er hart geworden. Er verließ sich grundsätzlich nur auf einen einzigen Menschen: Auf sich selbst.
Sein erster Impuls war gewesen, Charles’ flehentlichen Brief zusammenzuknüllen und Anna ausrichten zu lassen, er könne ihn sich sonst wohin stecken. Aber die Vernunft siegte über diese Gefühlsaufwallung.
Denn ohne es zu ahnen, bot ihm sein lange entfremdeter Vater damit die Gelegenheit zu der Rache, nach der er sich immer gesehnt hatte. Endlich konnte er ihm heimzahlen, was er ihnen angetan hatte.
Cynthia hatte ihm die Geschichte oft genug erzählt: Direkt nach der Hochzeit hatte er das Interesse verloren und sich nicht mehr um sie gekümmert. Alles andere war ihm wichtiger gewesen als seine junge Frau. Als sich Cynthia in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung einen eigenen Freundeskreis und eigene Hobbys hatte aufbauen wollen, war sein ausgeprägter Besitzanspruch zutage getreten. Rasend vor Eifersucht kam er letztendlich zu der Überzeugung, dass sie ihn betrogen habe.
Dann eskalierte die ganze Situation in dem Streit, bei
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